Zoia, Lupo und Sciùr – von Poschiavo nach Salecina

Heute Vormittag geht die whatsalp-Gruppe getrennte Wege. Ein Teil setzt die Wanderung dort fort, wo man vor drei Tagen angekommen ist. Der andere Teil nimmt die Route ab Poschiavo unter die Füsse und trifft die anderen in Cavaglia. Von dort geht es gemeinsam los hinauf zur schweizerisch-italienischen Grenze auf dem Passo Canfinale. Durch den Lärchenwald wandern wir bergan, bis wir auf den Varuna-Bach treffen. Dieser Bach war am 18. Juli 1987 die Ursache für die Zerstörung des Städtchens Poschiavo. Riesige Schuttmassen aus dem Val Varuna hatten den Hochwasser führenden Poschiavino gestaut. Nach dem Durchbruch des Poschiavino wälzten sich riesige Wasser- und Schuttmassen durch den Dorfkern und rissen Strassen und Plätze wurden metertief auf, unterspühlten Gebäudefundamente und überfluteten den Grossteil aller Häuser Keller und viele Räume in den Erdgeschossen. Für uns ist es eindrücklich zu sehen, wie tief sich der Varuna-Bach in die Bergflanke hineingefressen und die Bäume auf beiden Seiten mitgerissen hat. Unterdessen ist der Bach stark verbaut worden, sodass er heute wie eine lange, steile Treppe aussieht.
Bis zum Pass da Canfinal ist es noch ein weiter Weg, der uns durch eine hochalpine Landschaft über steile Hänge führt. Oben am Pass angekommen, erwarten uns bereits seit einer Stunde Enrico und Stefano vom Italienischen Alpenclub CAI Sondrio und freuen sich, dass wir doch noch eintreffen. Nach ein paar Fotos brechen wir zum gemeinsamen Abstieg auf, Stefano hat offenbar die Aufgabe übernommen aufmerksam darauf zu achten, dass niemand verloren geht. Auf der Talflanke gegenüber wird der Fellario-Gletscher sichtbar, der vom Piz Zupò ins Tal hinunter zieht. Gerhard hatte diesen Gletscher 1992 fotografiert und wir vergleichen das Foto von damals mit dem heutigen Zustand. Erschüttert stellen wir fest, dass innerhalb von 25 Jahren die gesamte Gletscherzunge weggeschmolzen ist. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der einst stolze Fellaria-Gletscher vollständig verschwunden sein wird.
Auf der Alpe Gembré kommen wir mit den ÄlplerInnen ins Gespräch und es gibt einen Kaffee und Alpkäse von den eigenen Kühen und Ziegen. Wir erfahren, dass jede der 46 Ziegen einen Namen besitzt, darunter die Namen „Bin Laden“ und „Bush“, wie die ÄlplerInnen schmunzelnd erwähnen. Beim Weiterwandern entlang des ausgedehnten Lago Gera mit seiner imposanten Staumauer treffen wir auf die acht CAI-Mitglieder, die mit uns den heutigen Abend und den morgigen Tag verbringen werden. Sie sind von der Gruppe Tutela Ambiente Montagna (TAM) des CAI Lombardei und führen ihren Weiterbildungskurs gemeinsam mit whatsalp durch. Im Rifugio Zoia werden wir von Hüttenwart Emanuele und seiner Familie freundlich empfangen, einige von uns kennen die sympathische Hütte bereits von der Salecina-Skitourenwoche, die hier bereits mehrmals Station machte. Am Abend hält Oscar del Barba, der unsere Zusammenkunft mit dem CAI eingefädelt hat, einen Vortrag über die Alpenkonvention und behandelt aktuelle Fragen der Umweltpolitik im Veltlin. Oscar war bis vor ein paar Jahren Präsident von CIPRA Italien und führt das Technische Umweltsekretariat des CAI.
Trotz des anstrengenden Abends stehen am nächsten Morgen um acht Uhr vor dem Rifugio Zoia wieder alle zum Abwandern bereit. Die Zeit reicht gerade noch für das obligate Gruppenfoto mit Transparent. Und dann müssen wir los, denn für heute hat uns Enrico eine Exkursion von sieben bis acht Stunden Dauer angekündigt. Unterdessen ist auch Alfredo eingetroffen, Geologe und Wanderführer aus dem Val Malenco, der uns während des heutigen Tages begleiten wird. Der steile Abstieg durch die Gole di Franscia nimmt viel Zeit in Anspruch, und gegen Mittag haben wir schon einen grossen Rückstand auf den Zeitplan. So ziehen wir trotz aufkommender Müdigkeit die Wanderung bis zum Agriturismo auf der Alpe Palù durch. Dort angekommen, ist die Terrasse am heutigen Sonntag bereits rappelvoll mit Ausflüglern von der nahen Bergbahnstation besetzt. So müssen uns mit der Wiese nebenan begnügen, wo es aber trotzdem ein Bier und einen Caffè gibt.
Während der Wanderung informiert uns Alfredo über die Geologie des Val Malenco und erklärt, dass wir uns hier im Herz des Serpentinit befinden. Das ist an den grünlichen Gesteinsformationen auch gut erkennbar und wir sehen viele Spuren von historischem Bergbau. Oberhalb von Franscia wurde seit über hundert Jahren in Stollen Asbest abgebaut, ein wichtiges Ausgangsmaterial für feuerfeste Baustoffe und Kleidung. Die ausgedehnten Abraumhalden sind noch gut erkennbar, wenn sie auch heute mit Wiese überwachsen sind. Der Abbau lohnt sich seit Jahrzehnten nicht mehr, dafür gibt es im Val Malenco jetzt zahlreiche Steinbrüche für den beliebten Baustein Serpentin.
Am idyllisch gelegenen Lago Palù beschäftigen wir uns mit dem Skigebiet von Chiesa, das seit 1992 noch einmal kräftig ausgebaut wurde. Die geschlossene grosse Schneebar, an der wir vorüber kommen, ist nur ein Beispiel für die neuen Infrastrukturen in der Berglandschaft. Insbesondere entstanden zahlreiche Anlagen für die künstliche Beschneiung, das Wasser wird dem Lago Palù entnommen. Seit hundert Jahren dient dieser See auch als Speicher für das Elektrizitätswerk von Chiesa.
Wie es einige von uns bereits ahnten, ist das Exkursionsprogramm des CAI zu ambitiös, sodass unser Exkursionsleiter die Wanderung abkürzen und den direkten Weg nach Chiareggio wählen muss. Wir treffen gegen Abend an unserem Tagesziel ein, wo wir uns im Albergo Pian del Lupo einfinden. Hier war bereits vor fünf Jahren die Jubiläums-Wandergruppe der CIPRA einquartiert, die ebenfalls von Poschiavo nach Salecina marschierte. Während und nach dem Abendessen gibt es eine Weindegustation mit Casimiro Maule, Direktor der Aziendo Nino Negri im Veltlin. Oscar kennt den Enologen seit langem und hat ihn heute Abend zu uns eingeladen, um über seine Visionen und Projekte zu berichten. Casimiro arbeitet seit 46 Jahren als Kellermeister im Veltlin und gehört zu jenen Enologen, die in den 1970er- und 80er-Jahren die Umstellung der Veltliner Weinlandschaft auf Qualitätsweine vorangetrieben haben. Zu Sciàt – kleinen Käslein im gebackenen Teig – präsentiert er uns die Jahrgänge 2012 und 2013 des Sciùr und führt uns die Besonderheiten des Weinbaus im Veltlin ein. Nachdem Casimiro seine Zukunftsvision vom Weinbau im Veltlin vorgetragen hat – er betont die Ökologie und das kulturelle Erbe der Terrassenlandschaften, entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob biologischer Weinbau zwischen konventionellen Betrieben überhaupt möglich sei. Casimiro präzisiert daraufhin, dass sich seine ökologische Vision auf das gesamte Veltlin beziehe, aber dahin sei noch ein weiter Weg.
Am nächsten Morgen folgen wir dem alten Säumerweg über den Murettopass nach Maloja. Wir erzählen dem achtjährigen Tim, der mit seinem Vater Christoph heute mitwandert, dass der erste Säumer, der im Frühling den Übergang für den Passverkehr öffnete, seine Weinladung behalten durfte. Das Wetter wird nun immer schlechter, und als wir an der Passhöhe ankommen, beginnt es zu gewittern. Der Regen prasselt nieder und es bläst ein kalter Wind, zwischendurch blitzt und donnert es. Nicht nur der kleine Tim schlottert vor Kälte und wir schauen, dass wir rasch vom Pass hinunter kommen. Schon bald hört der Regen auf und die Sonne schaut wieder hervor; auf den grossen Felsbrocken am Murettobach machen wir eine Pause und lassen uns in der Wärme trocknen.
Dann wandern wir weiter, denn um 15 Uhr haben wir am Cavloccio-See mit dem Filmteam des Westschweizer Fernsehens abgemacht. Oberhalb des Sees packen wir das whatsalp-Transparent aus und ziehen vor der laufenden Kamera vorbei mitten in eine grosse Ziegenherde hinein. Während die Wandergruppe im kleinen Ristorante einkehrt, geben Harry und Dominik den Filmleuten noch ein Interview und berichten über die Erfahrungen auf ihrer bisherigen Tour. Am Rande der Filmerei kommt Dominik mit Guido Leutenegger ins Gespräch, der Redaktorin Nicole Dellapietra heute unterstützt. Wir diskutieren über die Alpwirtschaft in den Südalpen: Neue Wildnis in den Alpen oder Erhaltung der Kulturlandschaft durch innovative Beweidungsprojekte?, so lautet eine Frage. Leutenegger führt in Ermatingen einen grossen ökologischen Landwirtschaftsbetrieb mit Hochlandrindern, die er im Sommer auf Alpen im Val Colla und im Valle Maggia weiden lässt. Die Vermarktung erfolgt ausschliesslich direkt.
Anschliessend geht es die Bergstrasse hinunter zum Ferien- und Bildungszentrum Salecina, der Wiege der Projekte TransALPedes und whatsalp. Es ist Hochsaison und die 56 Betten sind bis auf den letzten Platz besetzt. Damit auch wir von whatsalp einen Schlafplatz finden, haben die BetriebsleiterInnen ein grosses Festzelt aufgebaut. Es wird Anfang August auch für das Konzert mit dem Schweizer Liedermacher Ärnscht Born dienen. Nach dem Abendessen berichten die whatsalplerInnen über ihre Wanderung. Dominik liest aus dem Buch Alpenglühn die seinerzeit von Jürg Frischknecht verfasste Passage über die Ankunft von TransALPedes Ende Juli 1992 in Salecina.