Von unseren Gastgebern im Hotel Perfler erfahren wir, dass Sillian der Ort mit den meisten Sonnenstunden Österreichs ist. Allerdings stand die Gemeinde nicht immer auf der Sonnenseite, woran auch der Ortsname erinnert, der sich möglicherweise aus dem Wort Silicana (Bachschuttgelände) ableitet. In seiner Geschichte wurde das Dorf immer wieder von grossen Hochwässern und Murgängen zerstört. In Sillian wogt derzeit die Auseinandersetzung um den Bau einer Skischaukel nach Sexten (Südtirol) hinüber. Die federführende Zillertaler Schultz-Gruppe möchte die neue Seilbahn quer über den ganzen Ort und hinauf auf den Berg Helm spannen, wo Anschluss an das Sextener Skigebiet und damit an Dolomiti Superski, den grössten Skigebietsverbund der Alpen, bestünde. Das Projekt wird vom Alpenverein Sillian und dessen Obmann Anton Sint vehement kritisiert, weil es den Charakter Sillians stark zu verändern droht.
Mit der Vorstellung, dass Sillian dereinst von einer imposanten Wäscheleine überspannt werden soll, radeln wir aus dem Ort hinaus der italienischen Grenze entgegen. Am Vorabend hatten wir mit Anton noch über diese Staatsgrenze zwischen Ost- und Südtirol diskutiert, und wie diese in den Köpfen der OsttirolerInnen noch wirksam sei. Hier auf dem Radweg deutet nichts Auffälliges auf die Grenze hin und Mitradlerin Claudia muss uns darauf aufmerksam machen, dass wir nun in Italien sind. Wir fahren nochmals ein Stück zurück um uns zu vergewissern, dass wir tatsächlich den Staat gewechselt haben. Es ist heute schwer vorstellbar, dass sich hier im Ersten Weltkrieg österreichische und italienische Truppen blutig bekämpft hatten. Nach Kriegsschluss zogen die Siegermächte dann den Grenzstrich und trennten Südtirol von Österreich ab. Peter Hasslacher hatte uns erzählt, wie noch in den 1970er-Jahren auf der Zugfahrt durch den sogenannten Pustertaler Korridor nach Innsbruck an der Grenze die italienischen Zöllner kamen und die Türen verriegelten.
Nun also in Südtirol angekommen, blicken wir auf unserer Linken zu den hochaufragenden Zinnen der Dolomiten hinauf. Wir befinden uns in unmittelbarer Nähe des Teilgebietes „Nördliche Dolomiten“ des UNESCO Weltnaturerbes der Dolomiten. Diese wurden 2009 von der UNESCO als serielles Weltnaturerbe anerkannt, seriell deshalb, weil es aus neun Teilgebieten der Dolomiten besteht. Die Nominierung hatte zu Kritik seitens der Umweltschutzorganisationen geführt, weil nicht die ganzen Dolomiten unter Schutz gestellt wurden, sondern nur Teile davon. Die Kernfläche beträgt rund 1420 qkm, dazu kommen rund 893 qkm Pufferzone. Alle Flächen waren bereits vorher als Nationalpark, Naturpark oder Natura 2000 Gebiete geschützt. Auf unseren Velos gondeln wir jetzt an einer Reihe gut erhaltener Pustertaler Städtchen vorbei: Innichen/San Candido mit der ältesten romanischen Kirche der Ostalpen und Toblach mit seinem Grandhotel, das 1877/78 an der damals neuen Pustertal-Eisenbahnlinie gebaut worden war. Heute wird der voluminöse Bau unter anderem als Kulturzentrum, Ausstellungsraum und Jugendherberge genutzt. Seit mehr als dreissig Jahren finden die bekannten Toblacher Gespräche zu aktuellen Themen von Politik und Kultur statt, u.a. 2015 unter dem Titel „Sanfter Tourismus – doch eine Illusion?“. Hans Schmieder, einer der Initianten der Veranstaltung, hatten wir gestern Abend in Kartitsch bei der Unterzeichnung des Memorandums gegen die Alemagna getroffen.
Gleich nach Toblach öffnet sich der Blick ins Val di Landro, das nach Misurina hoch geht. Hier führte bis 1964 der legendäre Treno delle Dolomiti, die Dolomitenbahn, hinauf nach Cortina d‘Ampezzo und weiter nach Calalzo. Diese von den Österreichern im 1.Weltkrieg als Militärbahn gebaute Linie nahm 1921 den Betrieb für den Personenverkehr auf und wurde zur Schlagader des Tourismus. Seit Jahren fordern die anliegenden Gemeinden und Provinzen die Wiederaufnahme des Betriebes der Dolomitenbahn, nicht zuletzt als Alternative zu einer Alemagna-Autobahn. Die diesbezüglichen planerischen Herausforderungen sind allerdings gross, verläuft doch heute ein beliebter Fahrradweg auf der ehemaligen Bahntrasse.
Nun geht unser Radweg grösstenteils bergab, nicht ohne dass eine Reihe giftiger Gegenanstiege zu bewältigen sind. Kurz vor Bruneck führt der Weg mitten in der tiefen Schlucht der Rienz durch einige Tunnels. Wir wundern uns über diese komfortable Wegführung, bis uns eine Informationstafel über die Gründe aufklärt. Hier hatte vor über hundert Jahren die Pustertal-Eisenbahnlinie zunächst durchgeführt, bevor sie von einem Hochwasser weggespült und weiter oben neu errichtet wurde. Heute ist die Pustertalbahn eine moderne Nahverkehrslinie, welche von der Autonomen Provinz Südtirol nach dem Vorbild der Vinschgerbahn mit Leichttriebwagen im Stundentakt betrieben wird. Dank einer Reihe von Verbesserungen hatten sich die Fahrgastzahlen innert weniger Jahre auf rund eine Million jährlich verdreifacht.
Im Südtiroler Dolomitenstädtchen Bruneck schalten wir einen Ruhetag ein und treffen am Abend die Gruppe von whatsalp youth. Die CIPRA hatte dieses Projekt mit Unterstützung des Erasmus+ Programms vorbereitet, bei dem rund 15 Jugendliche aus verschiedenen Alpenländern Teilstrecken von whatsalp mitwandern und dabei eigene Projekte verfolgen. Die Jugendlichen kommen u.a. aus dem Kreis des CIPRA-Jugendbeirates und aus anderen Jugendprojekten im Alpenraum. Unter der Moderation von Gregor von der CIPRA und von Julia aus Österreich setzen wir uns zu einer Gesprächsrunde zusammen und tauschen uns über unsere bisherigen Erfahrungen mit den Alpen aus. In kleinen Gruppen werden vier Themen behandelt, über die sich die Gruppe vorher verständigt hat: Klimawandel, demographischer Wandel, Leben in den Alpen und Zukunft in den Alpen. Eine Frage, die zum Beispiel diskutiert wird lautet: Was braucht es, damit Jugendliche in ihren Alpenregionen wohnen bleiben? In den kommenden Tagen werden die Jugendlichen zu diesen Themen Interviews führen und einen Film gestalten. Über seine Erfahrungen mit whatsalp youth schreibt der 17-jährige Sebastian aus der Schweiz einen Gastblog für unsere Website.
Am kommenden Morgen steigen wir in der auf rund zwanzig Köpfe angewachsenen whatsalp-Gruppe auf Mietvelos und nehmen die Strecke nach Mühlbach am Ende des Pustertals unter die Räder. Schon bald sind die Jugendlichen ausser Sichtweite, und die whatsalp-Kerngruppe gondelt gemütlich hintennach. Zwischendurch gibt es noch ein Gespräch mit Hillar aus Berlin, der für das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine Geschichte über whatsalp plant. Ab Mühlbach geht es zu Fuss weiter durch den steilen Bergwald nach Meransen hinauf und von da hinein ins Tal nach Vals. Als Harry und Dominik in der Pension Grimmhof eintreffen, sitzen die Jugendlichen längst frisch geduscht beim Abendessen.
Am nächsten Morgen erwarten uns um 8.30 Uhr zwei Journalistinnen und ein Kameramann des Fernsehsenders RAI Südtirol vor unserer Unterkunft. Mehr als eine Stunde lang agieren wir als StatistInnen für die Filmaufnahmen, einmal mit und dann wieder ohne Transparent. Dann werden noch Interviews mit dem whatsalp-Kernteam (auf Deutsch) und mit dem Südtiroler Matthias von whatsalp youth (auf Italienisch) gemacht. Mit einiger Verspätung geht es dann doch noch los, und nach einer Stunde sind wir bereits in der Nockalmhütte oben. Das Kernteam spendiert allen eine Runde – am Abend werden dann alle zufrieden sein, weil die Tagesschau über whatsalp einen guten Beitrag ausstrahlt.
Auf der weiteren Wanderung unterwegs gibt es dann viele Gespräche unter und mit den Jugendlichen über die Situation in den Alpen, aber auch über mach andere Themen. Einige treffen unterwegs einen alten Almhirten und fragen ihn, ob sie mit ihm ein Gespräch führen und dabei filmen dürfen. Andere interviewen sich mit ihren Smartphones gegenseitig zu den am Vortag ausgearbeiteten Fragen. Auf einer schönen Alpweide mit viel Panorama machen wir Mittagsrast. Den Bergkamm haben wir bereits überschritten und so blicken wir nun ins Wipptal und Eisacktal hinunter, wo Eisenbahn und Autobahn der Brennerroute verlaufen. Doch schon bald beeilen wir uns zum Aufbruch, denn auf 17 Uhr ist das Treffen mit der Gemeinde Brixen abgemacht, und wir sollten zuerst noch unser Hotel. Schliesslich teilt sich die Gruppe und die Kerngruppe geht nach Mauls hinunter, von wo sie sich von einem Taxi direkt nach Brixen bringen lässt, während die Jugendlichen noch ins Hotel gehen und etwas später dazu stossen.