Wir starten in Le Boréon wieder in Begleitung unseres Senior-Kerngruppenmitgliedes Gerhard, wie er sich bezeichnet. Mit seinen 73 Jahren besitzt er eine beachtliche körperliche Leistungsfähigkeit, muss aber zwischendurch längere Ruhepausen einschalten. Dennoch freuen wir uns, dass Gerhard mit whatsalp so präsent ist.
Wir nehmen nicht den Aufstieg zum benachbarten Col de Cerise, wo sich im September 1943 eine Tragödie ereignete. Eine Inschrift an der Abzweigung berichtet, dass über diesem Pass damals Hunderte von jüdischen Flüchtlingen versuchten, den deutschen Besatzern zu entkommen. Auf der italienischen Seite gerieten viele von ihnen in die Hände der SS, die sie umgehend nach Auschwitz depotierte. Andere konnten entkommen und versteckten sich bis zur Befreiung Norditaliens in der Provinz Cuneo. Es ist nicht das erste Mal auf unserer Wanderung in alpinen Grenzgebieten, dass uns das Schicksal von früheren und heutigen EmigrantInnen betroffen macht.
Nun wieder in der Kernzone des Nationalparks Mercantour, wird der Aufstieg nach zwei Stunden Wanderung durch einen lichten Lärchenwald steiniger, bis der Lac de Trecolpas zum Bad einlädt. Nicht alle haben Lust, in das eiskalte Wasser zu springen, aber Harry tut das wie fast immer und mit ihm Peter. Über grosse Felsblöcke gelangen wir zum Pas des Ladres und dann auf bequemem Weg hinunter zum Wallfahrtsort la Madone de Fenestre. Hier hat sich in den letzten 25 Jahren kaum etwas verändert, und noch immer empfängt uns die in die Jahre gekommene Unterkunft des CAF neben der Wallfahrtskirche mit dem grossen Parkplatz. Am Abend treffen wir zum ersten Mal Martial Bos vom CAF Nice, der extra zu unserer Begrüssung hier herauf gefahren ist. Zusammen mit CIPRA France ist er daran, für whatsalp die Ankunft in Nizza vorzubereiten.
Seine ClubkameradInnen lernen wir dann am nächsten Tag kennen, nachdem wir den steilen Pas de Mont Colomb erklommen haben. In der weiten Felslandschaft sind nun einige der vielen bunten Signalisierungen grau übermalt und durch Steinmannli ersetzt. Das erinnert uns an den seinerzeitigen Kampf von TransALPedes-Kerngruppenmitglied François Labande gegen die „Vermalung“ der Alpen durch die Wegmarkierer. Im anspruchsvollen Gelände des Abstiegs vom Pass kommt uns auf der anderen Seite die Delegation des CAF Nice von beachtlicher Grösse entgegen. Unter ihnen ist auch eine Journalistin eines englischen Nachrichtenmagazins, die uns im Steilhang nach der Business Card fragt. Weiter unten im Geröll finden wir eine flache Stelle um uns hinzusetzen und den Alpenclubisten zu berichten, was wir bisher in den Alpen gesehen haben.
Den weiteren Abstieg zum Refuge de Nice absolvieren wir in Kleingruppen. Für uns eine Gelegenheit, unseren GastgeberInnen Fragen zu stellen: Verstehen sich die Niçois als AlpenstädterInnen? Welche Probleme bestehen im Nationalpark? Wie engagiert sich der CAF für die Alpen? Das Refuge de Nice ist nicht mehr die gleiche Hütte wie 1992, denn unterdessen konnte der CAF ein ehemaliges Gebäude der Electricité du France übernehmen. Diese betreiben hier mitten im Schutzgebiet einen Stausee, der allerdings schon länger existiert als der Nationalpark. Der See ist Teil eines ausgedehnten, grosse Teile des Mercantour-Nationalparks überziehenden Kraftwerksystems, das in den 1930er-Jahren von Italien gebaut wurde und 1947 an Frankreich überging.
Gleich nach der Ankunft in der Hütte bittet Martial uns und weitere zwanzig CAF-Mitglieder in den Essraum, wo er eine Powerpoint-Präsentation vorbereitet hat. Er ist seit über zwanzig Jahren Umweltverantwortlicher des CAF Nice und beginnt seinen Vortrag mit einigen kritischen Bemerkungen zu den Landschaftseingriffen in den Skistationen mit ihren Bauten und Pisten; ironisch weist er darauf hin, dass die Quads die Traktoren verdrängt hätten. Dann wendet er sich den Naturschönheiten des Mercantour Nationalparks zu, dessen Ecken und Winkel er wie seine Hosentasche kennt. Über die Jahrzehnte sind ihm viele schöne Fotoaufnahmen von Tieren gelungen. Sein Ziel seien eben nicht die Pässe und Gipfel, sondern er gehe oft tagelang den Spuren nach, bis er wieder ein seltenes Tier vor der Linse habe. Mit seinen Fotos stellt uns Martial zahlreiche Vogelarten vor, während wir versuchen, die deutsche Bezeichnung dafür zu finden. Wer kennt sie? Coucou, epervier, pipit spioncel, accenteur alpin, logopede male, poussin logopede, chocard a bec jaune, craves a bec rouge, aigle royal, vautours barbu, gypaète, tetra lyres, merle a plastron, traquets mat, monticole, circaète, grand Corbeau, huppe, pic noir, pic éoeiche, chouette, mesanges huppe, cincle plongeur, cassenoix, vec croisé, venturan… und weitere Tiere wie renard, hermine en rave, marmotte, capri, chamois, chevrée, corinelle, capricorne. Als charakteristische Pflanzenarten für den Mercantour nennt er u.a. sagifraga und tichodrome.
Anschliessend gibt es noch ein Gruppenfoto vor der Hütte, bevor uns ein Grossteil der Anwesenden wieder verlässt und sich bis Nizza verabschiedet. Wir anderen setzen uns mit Vizepräsident Georges Torelli, Martial und anderen in die Hütte und plaudern über dies und jenes. Nach dem Essen erzählt uns Georges von seinen Bergabenteuern und verrät uns seine Besteigungen in den Alpen, die er während seines langen Bergsteigerlebens unternommen hat. Am andern Morgen entscheiden sich einige CAF’ler, uns noch über den nächsten Pass zu begleiten. Es ist die Baisse du Basto, die uns mit ihrer hochalpinen Szenerie empfängt. Auf der anderen Seite trennen wir uns von den freundlichen BegleiterInnen gehen zur Baisse de Valmasque, die ins Vallée des Merveilles hinüberführt. Ein Teil der Gruppe wählt die Route über den Mont Bégo in der Hoffnung, von diesem Berg aus das erste Mal das Mittelmehr zu sehen. Den anderen steht der Sinn mehr nach Kultur und sie gehen hinunter zu den berühmten Steinzeichnungen im Vallée des Merveilles.
Begeistert von den imposanten Gletscherschliffen und noch auf der Suche nach den schönsten Gravuren, werden wir von einem Aufseher angehalten. Wieso wir hier die Wanderstöcke benützten und warum einer von uns den Weg abgeschnitten habe, schnauzt er uns an. Das sei hier streng verboten. Mit der Zeit entspannt sich das Gespräch und wir lernen Etienne etwas besser kennen. Er berichtet über die Probleme, die im Vallée des Merveilles mit dem Vandalismus bestehen und wie schwierig es geworden sei, die Zerstörung der Gravuren durch die TouristInnen zu verhindern. Im Refuge des Merveilles vermittelt uns Hilda, die als Mitwandernde heute wieder zu uns stösst, den Kontakt zu Yves Duffey von der Bürgerinitiative Sauvons La Roya.