Wir haben im kasernenartigen Refuge de Merveilles ein gutes Abendessen und eine weniger angenehme Nacht verbracht. Aus den Reihen des CAF Nice haben wir vernommen, dass hier demnächst eine neue Hütte gebaut werden soll. Vom Nationalpark hören wir, dass es zudem ein Projekt gebe, an dieser Stelle ein ganzes Nationalparkdorf zu erstellen, mit Servicegebäuden für den Betrieb und Unterkünften für die Hirten. Wir denken, dass eine neue Hütte schon Sinn machen würde, dass aber ein ganzes Dorf hier oben zu viel Druck auf die sensible Natur mit sich bringt.
So starten wir in den klaren Morgen hinein. Heute bewegen wir uns zum letzten Mal im Hochgebirge, danach beginnt der Abstieg ans Meer. Der Mont Bégo hat über Nacht etwas Schnee erhalten und spiegelt sich wunderschön im spiegelglatten Lac Long Supérieur. Beim Aufstieg entlang der Kette von kleinen Stauseen mit ausgetrocknetem Bachbett erinnern wir uns an die Aussage eines Parkverantwortlichen, dass es seit 2006 zwar ein Gewässerschutzgesetz gebe, die Kraftwerksbetreiber die vorgeschriebenen Restwassermengen jedoch nicht einhielten. Auf dem Col du Diable lässt sich das Meer in der Weite vor uns erahnen, die Sicht ist aber zu dunstig, um bis an die Küste zu sehen. Es folgt ein langer Abstieg durch Geröll und dann über die nach dem trockenen Sommer braunen, steilen Grashänge. Die grosse Schafherde, die hier weidet, findet wohl kaum genug Futter. Eine zu grosse Herde vermutlich, wenn wir hören, dass der Nationalpark in der Kernzone nur eine eingeschränkte Beweidung zulassen möchte.
Nach einem endlos scheinenden Abstieg kommen wir zum Point des Trois Communes mit seiner imposanten Festung aus dem 19. Jahrhundert, die in der Schlussphase des 2. Weltkrieges Schauplatz von verlustreichen Kämpfen zwischen Franzosen und Deutschen war. Gleich ein paar Minuten weiter drüben liegt der Berg Authion mit den Runinen einer grossen Kaserne, die Tausende von Soldaten beherbergte. Auch auf dem weiteren Weg bis ins Vallée de la Roya treffen wir immer wieder auf Relikte des Krieges, wie zum Beispiel grosse Kanonenrohre. Wir fragen uns, wie damals diese schweren Lasten hier hinauf transportiert werden konnten.
Wir wollten unsprünglich von der Refuge des Merveilles wie 1992 direkt nach Sospel absteigen, aber die über dreissig Kilometer Distanz und die 2500 m Abstieg hätten unsere Kräfte diesmal wohl überfordert. So verzichten wir auf den Ruhetag in der Merveilles-Hütte und steigen in der Gîte d’Etappe in Camp d’Argent ab. Ein alter Skilift ziert die Landschaft, der dazugehörige Parklatz wird mit Unterstützung der Metropolenregion Nizza gerade grosszügig ausgebaut. Camp d’Argent ist von Nizza aus eines der nächstgelegenen Skigebiete, hat aber trotz seiner Höhenlage von 1700 m ü.M. oft zu wenig Schnee. Hier und am Col de Turini etwas weiter unten bestanden in den 1980er-Jahren Pläne für ein Skiresort, die aber nie umgesetzt wurden. Als wir ankommen, ist die Gite d’Etappe noch zu, aber dank einem Telefon von Martial bei der Parkverwaltung in Nizza ist Garde Monitor Laurent Malthieux schon da. Er berichtet uns heute Nachmittag über die Situation im Nationalpark.
Am folgenden Tag geht es so weit hinunter wie seit Monaten nicht mehr. Während der neunstündigen Wanderung – es ist mit 1700 m auch so noch einer der längsten Abstiege unserer ganzen Tour – sieht und spürt man die verschiedenen Klima- und Vegetationszonen. Das kontinentale und gemässigte Klima der Berge vermischt sich mit dem mediterranen und dem maritimen Klima der Küste. Beim weiteren Abstieg staunen wir darüber, dass der Laubwald bis gegen 2000 m ü.M. hinauf gedeiht. Es wird schlussendlich ein langer Tag, bis wir unten im historischen Städtchen Sospel im Vallée de la Roya ankommen.
In Sospel stösst Marc-Jerôme Hassid zu unserer Gruppe, der Geschäftsführer von CIPRA France. Nach der logistischen Unterstützung für whatsalp möchte er unsere Wanderung auch persönlich miterleben. Wir fragen uns, wie wir als deutschsprachige Wandergruppe auf ihn wirken, der kein Wort versteht, wenn wir uns unterhalten. Aber rasch schliessen wir Freundschaft und erfahren einiges zur Umweltsituation in den französischen Alpen und über die diesbezügliche Arbeit der CIPRA. Wir sind zwar schon beinahe an der Küste, aber trotzdem geht es von Sospel zuerst wieder 700 m hinauf zu unserem letzten Tausender, dem Col du Farguet. Dann geht es auf und ab und es folgen die herausgeputzten Bergstädtchen Peille und Peillon, denen man die Nähe zu Monaco deutlich ansieht. In Peille gehen wir trotzdem in ein Restaurant und kriegen erstaunlich gute Crêpes serviert. Je mehr wir uns der Küste nähern, desto mehr Strassen und Zäune versperren unseren Weg – die Villen dahinter sind oft gar nicht sichtbar. So gehen wir die letzten Kilometer von St-Martin-de-Peille nach La Turbie auf der Hauptstrasse, an deren Ende wir plötzlich das Meer vor uns haben. Unter uns liegt an der Küste die Altstadt von Monte Carlo, umgeben von den Hochbauten der Hotels und Appartementhäuser. Wir gehen noch unter der Küstenautobahn hindurch, das ist eigentlich unsere zehnte grosse Transitachse durch die Alpen, dann treffen wir im schicken La Turbie ein und beziehen unsere teuren Hotelzimmer.
In La Turbie überzeugen wir uns nochmals, dass wir tatsächlich am Meer sind. Es ist ein eigenartiges Gefühl, dass wir nach vier Monaten Wandern tatsächlich hier sind, und Geograph Dominik stellt fest, dass die Geographie tatsächlich funktioniert habe. Der letzte whatsalp-Tag beginnt im Morgenstau von La Turbie, der Autobahntunnel sei aus technischen Gründen gerade gesperrt, heisst es. Aber schon bald lassen wir den Rummel des Nobelortes unter uns und steigen nochmals bergan. Die nächsten zwei Stunden wandern wir der Grande Corniche entlang, die von Bebauung frei gehalten werden konnte. Heute liegt hier ein Reginalpark, wie es im Département des Alpes Maritimes einige gibt, sodass dieser grossartige Bergzug über der Küste für die Erholungssuchenden erhalten bleibt. Unterwegs begegnen wir einigen älteren Frauen und Männern, die hier am Spazieren sind. Mit einigen kommen wir ins Gespräch und berichten ihnen von unserer Wanderung. Zwei der Damen sind so begeistert, dass sie versprechen, am Abend zu unserem Empfang nach Nizza zu kommen.
Auf dem Col d’Èze gibt Dominik einem deutschen Radio ein Interview über die Ergebnisse von whatsalp. Dann geht es zum Plateau de la Justice, wo die Delegation des CAF Nice kurz nach uns eintrifft. Martial hat alles unternommen, um ein paar Mitglieder dazu zu bewegen, an diesem Freitag einen Ausflug an den Stadtrand zu unternehmen. Wir erhalten den Eindruck, dass die AlpinistInnen zum ersten Mal auf diesem Hausberg Nizza‘s sind. Aber schlussendlich finden sich alle beim Sendemast zusammen. Wieder dabei ist auch Hélène Denis vom FFCAM, die bereits im Queyras mit uns wanderte und whatsalp die Treue hält. Wir sind nun eine stattliche Gruppe, mit der wir die letzten 500 Höhenmeter zur Stadt hinunter aufbrechen. Nach einigen Umwegen tauchen wir nach zwei Stunden in das Häusermeer der Grossstadt ein.