Ski total, ein Nationalpark und eine Skihalle auf dem Berg? Von Courmayeur nach Bonneval-sur-Arc, 24. – 28. August 2017

Schon wenige Minuten unterhalb von Courmayeur stossen wir erneut auf die massiven Pfeiler der Autobahn, die durch das Aostatal und den Montblanc-Tunnel nach Frankreich hinüber führt. Die achte Alpentransitstrasse an unserer Route ist nach dem Fréjus die wichtigste der Westalpen, deren Bedeutung durch die Fertigstellung der vierspurigen Autobahnen in Frankreich und Italien noch erhöht wurde. Nach der Katastrophe von 1999 und der in Folge dreijährigen Schliessung des Montblanc-Tunnels hatte der Verkehr zwar vorübergehend abgenommen, doch heute nimmt er wieder zu. Die Bemühungen der Umweltschutzorganisationen, wenigsten den LKW-Verkehr im Tunnel zu verbieten, blieben erfolglos. Selbst die Zukunft der renovationsbedürftigen Eisenbahnlinie im Aostatal ist heute in Frage gestellt. Im historischen Dorfkern von Pré-St-Didier merken wir nichts von der Hochleistungsstrasse, einzig der Lärm der Motorräder, die die Passroute auf den Kleinen Sankt Bernhard hinauffahren, dringen zu uns herüber. Wir aber wählen einen stillen Aufstieg abseits des Strassenverkehrs und gelangen auf der Ostseite des Tals über das Maiensäss Petosan nach La Thuile hinüber. Auch in diesem Passdorf dominieren heute die Installationen des Skitourismus die Landschaft, neben den dazu passenden, hässlichen Appartementhäusern im Talgrund. Wir übernachten im Ortsteil Villaret, gleich neben der überdimensionierten Talstation der Luftseilbahn.
Am kommenden Morgen geht es dem teilweise sorgfältig restaurierten alten Passweg entlang auf den Kleinen Sankt Bernhard – Pass hinauf, einem in historischen Zeiten wichtigen Übergang. Er gilt als eine von mehreren Möglichkeiten von Hannibals Zug über die Alpen, und hier überschritten im Jahr 1800 die napoleonischen Truppen bei ihrem Einmarsch in Oberitalien die Alpen. Auf der Hochfläche des Passes angekommen, stellen wir eine Szene aus dem Film „Der lange Marsch“ nach und überqueren mit aufgespanntem whatsalp-Transparent die offene Grenze nach Frankreich. Im alten Hospiz besuchen wir die interessante Ausstellung „Espérons que … speriamo che… 150 ans d’émigration italienne et valdôtaine en pays de Savoie“. Die Ausstellung dokumentiert die lange Auswanderungsgeschichte aus dem Valle d’Aosta nach Savoyen.
Vom Pass erfolgt bei grosser Hitze ein schier endloser Abstieg zuerst durch das Hochtal unterhalb der Passhöhe, dann an verschiedenen Feriendörfern vorbei ins Tal hinunter. Die meisten der alten Häuser in den Dörfern sind frisch renoviert und man riecht förmlich das viele Geld, das da drin stecken muss. Im schmuck aufgemachten Weiler Le Miroir freuen wir uns zu früh über eine Einkehrmöglichkeit; leider sind wir an ein Haubenlokal geraten und der Wirt weist uns schnöde ab. „Trop chic“, raunen wir ihm zu und wandern schwitzend weiter. Gleich unterhalb des Lokals beobachten wir, wie sich die Gäste im kühlenden Nass des Swimming Pools räkeln. Zum Glück ist es dann nur noch eine Wegstunde bis in unseren Übernachtungsort Ste-Foye-Tarantaise.
In der Nacht regnet es und nach der Hitze des Vortages kühlt es etwas ab. Heute stehen 1700 m Aufstieg auf dem Programm und wir sind froh, dass wir in Ste-Foye bei angehmen Temperaturen starten können. Der Aufstieg in Richtung Les Arcs 2000 verheisst nichts Gutes, denn überall entlang unseres Weges sind Pistenplanierungen im Gang, wie diese für den Betrieb der neuen Beschneiungsanlagen notwendig sind. Die neuen Lifte, die es 1992 noch nicht gab, sind gebaut worden, um Villaroger in den Skizirkus von Les Arcs zu integrieren. Von hier sehen wir gegenüber auf der anderen Talseite auch die neue Skistation von Ste-Foye mit dem sinnigen Namen „Bon Conseil“. Offenbar ist es immer noch so, dass viele der kleinen Gemeinden in der Tarantaise ihre Zukunft in einem eigenen Skigebiet sehen. Über hässliche breite Skipisten, die in der Landkarte noch als Wanderwege eingezeichnet sind, gelangen wir zu einem Übergang, wo wir in ein Naturreservat mit alten Bäumen und einem schönen Pfad eintauchen. Für kurze Zeit erinnern nur die Kanonenrohre für die Lawinensprengung daran, dass wir uns hier inmitten eines grossen Skigebietes befinden. Doch dann stockt uns der Atem, als sich der Blick auf die Hochhäuser von Les Arcs 2000 öffnet. Annette, Erich und Regula, die zum ersten Mal hier sind, können sich vom Anblick kaum erholen. Vor uns liegen die Bettenburgen der Station, zu denen seit 1992 das etwas unterhalb gelegene Les Arcs 1950 hinzu gekommen ist, eine im postmodernen Heimatstil gestaltete Retortensiedlung mit zahlreichen kleineren, aus Mauerstein gebauten Häusern mit traditionellen Dächern. Eine kurze Pendelbahn verbindet Les Arcs 1950 mit Les Arcs 2000.
Bereits 1992 nahmen wir zur Kenntnis, dass die Tarantaise die grösste Liftdichte der Welt aufweist und zu dem mit 300‘000 Betten zubetoniert ist; seither sind nochmals ein paar Dutzend Lifte und 46‘000 Betten dazu gekommen. Im Gegensatz zu damals, als wir hier im Schneesturm frierend vor der geschlossenen Skistation standen, sind heute einige wenige Lokale geöffnet. In einem Laden mit Imbissstand erhalten wir sogar frische Gaufres (Waffeln) und können uns mit lokalen Produkten eindecken. Während ein Teil der Grupppe auf dem „Dorfplatz“ einen Kaffee trinkt, erforscht Harry das Innere des gegenüberliegenden Hotelkomplexes und hisst nach einiger Zeit das whatsalp-Transparent hoch oben auf dem Dach. Zwei Stunden Les Arcs 2000 reichen uns und wir brechen bald wieder auf. Beim Weiterwandern blicken wir noch lange zu der hinter uns immer kleiner werdenden „ville phantome“ zurück, wie diese unser Mitwanderer Wolfgang später im Hüttenbuch bezeichnet.
Wir sind nun auf 2600 m und bei warmen Temperaturen nimmt ein Teil der Gruppe ein Bad im idyllisch Lac Marlou. Dann geht es hinein in den Vanoise-Nationalpark und wir wähnen uns zum ersten Mal seit mehreren Tagen wieder in der freien Natur. Dass wir uns trotz viel Natur in einer Kulturlandschaft befinden, stellen wir einige Zeit später fest. In den Hängen entlang unseres Weges weidet eine riesige Schafherde, bewacht von einem Schäfer mit seinen vier Hunden. Vom wortkargen Bergler erfahren wir, dass er hier für 1700 Tiere verantwortlich ist und dass vier Wölfe im Gebiet seien. Jeden Abend muss er die Herde zur Sicherheit in ein etwas weiter unten liegendes Gehege treiben. Dann kommen wir im Refuge de Mont Pourri an, und es werden Erinnerungen an 1992 wach. Damals hatten wir diese Hütte nach einem beschwerlichen Marsch durch zwanzig Zentimeter Neuschnee erreicht. Wir zeigen der Hüttenwartin einige Fotos. Unser Bericht über TransALPedes und whatsalp beeindruckt sie und sie wünscht uns für die weitere Wanderung bis Nizza alles Gute.
Nach einer ruhigen Nacht verlassen wir das Refuge Mont Pourri und steigen steil zum Plan de la Plagne hinunter. Zuerst haben wir noch der historischen Refuge Regaud einen Besuch abgestattet, von der aus früher der Mont Pourri bestiegen wurde. Die Hütte liegt zwanzig Minuten oberhalb und eine Dauerstellung informiert über deren wechselvolle Geschichte. Wir sind nun wieder im Vanoise-Nationalpark mit seinen einsamen Hochflächen und verlassenen Alpen. Die Geologie wechselt von dunkel auf hell, ein deutliches Zeichen dafür, dass wir uns nun nach kristallinem wieder in kalkigem Gelände befinden. Der Weg zieht sich das Tal hinein in die Länge, doch irgendwann kommen wir dann doch in der sympatischen Hütte des Nationalparks beim Col de Palet an. Nach einem feinen Stück Heidelbeerkuchen geht es weiter und es dauert dann nur ein paar Minuten, bis der Blick frei wird auf die Skistation Tignes. Unter uns liegen die Hochhäuser von Tignes Val Claret, weiter vorne die Hotelkästen von Tignes-le-Lac. Auf den Parkplätzen erkennen wir ein paar Autos, also herrscht offenbar immer noch Sommerbetrieb.
Gegenüber leuchtet der vereiste Gipfel der 3700 Meter hohen Grande Motte in der Abendsonne, dessen Gletscherskigebiet für Tignes eine besondere Bedeutung hat. Mit viel Aufwand ist man bestrebt, der Skibetrieb aufrecht zu erhalten. So werden die vielen gefährlichen Spalten des Gletschers mit Hilfe von Pistenfahrzeugen mit Schnee gefüllt, damit die Skifahrer nicht hinein fallen können. Hat es zu wenig Schnee, kommt die Gringnoteuse („Knabberer“) zum Einsatz, mit welcher das Gletschereis zerhackt und in die Spalten gestossen werden kann. Beim Abstieg vorbei an Skiliften, Mountainbike-Routen und Golfplatz kommen wir auch an jener Piste vorbei, wo rechterhand die Indoor-Skianlage „Ski Line“ entstehen soll. Am Nachmittag werden wir mehr dazu hören. Wir kommen hinunter nach Tignes-le-Lac, wo wir nur mit Mühe ein Bett finden. Die Tourismusorganisation quartiert uns schliesslich zu einem reduzierten Preis im Nobelhotel Taos ein, zum Erstaunen der Kollegen von Mountain Wilderness France, die wir am späteren Nachmittag treffen und die den Besuch solcher Etablissements gleich wie wir sonst zu eher vermeiden versuchen.
Am kommenden Morgen begleitet uns Jean-Louis Mongo von der Gruppe „No Ski Line“ die ersten zwei Stunden bis nach Val d’Isère und vermittelt uns weitere Informationen über seinen Ort. Weiter unten wird nun der Stausee Lac du Chevril sichtbar, in dem 1952 das alte Dorf Tignes versank. Die Grösse des Bauwerks ist enorm und nach seiner Inbetriebnahme lieferte die Kraftwerksanlage nicht weniger als zehn Prozent der Stromproduktion in Frankreich. Zum Gedenken an das alte Tignes und den erbitterten Widerstand der BewohnerInnen gegen dessen Zerstörung wurde am Ufer des Stausees vor einigen Jahren ein Denkmal errichtet. Es zeigt eine über das Wasser schauende junge stolze Frau in traditioneller Kleidung.
Über einen Sattel gelangen wir hinüber ins Tal von Val d’Isère. Jean-Louis zeigt uns den Abstieg durch den tiefen Einschnitt des Vallée perdue, den das Wasser in den Kalkfels hineingefressen hat. Im Winter ist die Schlucht voller Schnee und kann von guten SkifahrerInnen befahren werden. Oberhalb des französischen Nobel-Skiortes Val d‘Isère verabschiedet sich unser Begleiter und lässt uns allein nach Daille mit seinen bekannten Hotelpyramiden absteigen.
Doch das war heute nur der Anfang der Wanderung nach Bonneval-sur-Arc hinüber. Mit der aufziehenden Bewölkung fallen uns die tausend Höhenmeter Aufstieg zum Col de l’Iseran leichter als erwartet, und schon bald stehen wir inmitten von Motorrädern und Campern auf diesem mit 2764 m höchsten Autopass der Alpen und bis jetzt von whatsalp. Die Strasse verbindet die Täler der Tarantaise und der Maurienne und wurde erst 1937 eröffnet. Bekannt geworden ist der Col de l’Iseran nicht zuletzt durch die Tour de France, die hier immer wieder Station machte. Nach rund zehn Wanderstunden treffen wir Bonneval-sur-Arc ein, wo uns Regula mit einem Glas Apremont empfängt.