Gletscher, Massenwandern und AusflüglerInnen – von Fully nach Courmayeur, 19. – 22. August 2017

Als wir in Fully aufbrechen wollen, begrüsst uns der 85-jährige Röbi vom SAC St.Gallen vor dem Hotel. Sein stolzes Alter hält ihn nicht davon ab, heute und morgen mit uns mitzuwandern. Den vor uns liegenden steilen 900-Meter-Aufstieg vor Augen, sind wir etwas skeptisch. Doch Röbi belehrt uns eines Besseren und meistert die beiden Tagesetappen problemlos, wir sind sehr beeindruckt von ihm. Nach Überquerung des Rhonetals mit vielen Siedlungen, intensiven Landwirtschaftsbetrieben, Autobahn, Kantonsstrasse und Eisenbahnlinie gehen wir in Chênes den Steilhang an hinauf zum Col des Planches. Der Weg ist schmal und teilweise so steil, dass wir trotz unserer Profilsohlen ins Rutschen geraten. War das der Aufstieg der Knappen der ehemaligen Bergwerksreviere oben in Chemin Dessus? Weit unter uns breitet sich das Rhonetal aus, links unten liegt Martigny, gegenüber verschwindet Fully im Dunst. Auf der Alp auf dem Col kosten wir den selbstgemachten Ziegenkäse, bevor es wieder hinunter nach Sembrancher geht. Hier treffen wir auf unsere siebte grosse Alpentransitstrasse, die ganzjährig offene Verbindung über den Grossen Sankt Bernhard nach Aosta. In grossen Kehren zieht die breite Strasse am Ort vorbei, der ausgestorben in der Mittagshitze liegt. Von da sind es nur noch zwei Wegstunden bis Orsières am Eingang zum Val Ferret und Endstation der seit 1910 bestehenden und vor einigen Jahren modernisierten Eisenbahnlinie von Martigny nach Orsières.
Am anderen Morgen bleibt Dominik noch im Hotel Terminus in Orsières, um an den whatsalp-Blogs zu arbeiten. Der Rest der Gruppe bricht bereits nach La Fouly auf. Dominik’s Mittagessen gerät unerwarteterweise zum mehrgängigen Pilzschmaus, da er sich dem Jahresessen der Pilzgesellschaft des Entremont anschliessen darf. In Orsières ist Dominik’s und Harry’s Freund Urs wieder zu uns gestossen, mit dem vierten Mal seit Wien gehört er zu unseren treusten Mitwanderern. Die Wanderung das Val Ferret hinauf ist eine der schönsten Talwanderungen, die wir bis jetzt erleben konnten. Das über weite Strecken einsame und wenig berührte Tal bildet einen angenehmen Kontrast zum umtriebigen und lärmigen Unterwallis. Bekannt wurde das Val Ferret durch den Wolf, der zwischen 1994 und 1996 zahlreiche Schafe riss. Als einer der ersten Wölfe in der Schweiz in jüngerer Zeit hatte „La Bête du Val Ferret“ damals eine starke Medienpräsenz. In La Fouly übernachten wir in der sympathischen Gîte Maya-Joie, wo es heute Abend heisst: „Nous raclettons“.
Die Gletscher des Mont Dolent leuchten in der Morgensonne, als wir heute aufbrechen. Der Aufstieg geht zum Petit Col Ferret, der ins italienische Val Ferret hinüber führt. Der Abstieg vom Pass ist jedoch so steil, dass wir die zusätzliche Gehstunde zum Grand Col Ferret in Kauf nehmen, von wo der Weg hinunter zum Rifugio Elena deutlich bequemer ist. Ein Teil der Gruppe unternimmt einen Abstecher auf die Tête de Ferret, mit 2714 m der bis anhin höchste whatsalp-Punkt. Am Grand Col de Ferret sind wir auf der Route der Tour du Montblanc, die als Königin der Fernwanderwege in den Alpen gilt. Zehntausende sind auf der 170 km langen Strecke jeden Sommer unterwegs und frequentieren Hütten und Gasthäuser rund um den höchsten Berg Westeuropas. Darunter sind viele geführte Gruppen, Gepäcktransport inklusive. Was dies bedeutet, erleben wir heute Abend im Rifugio Elena mit seiner Massenabfertigung. Nach einer durchzogenen Nacht in der stickigen Luft der kasernenartigen Unterkunft sind wir am kommenden Morgen froh, dass wir wieder aufbrechen dürfen.
Während wir weiterwandern, werden die grossen Gletscher sichtbar, die südöstlich vom Mont-Blanc-Massiv hinunterfliessen. Eindrücklich ist für uns der gegenüber dem Rifugio Elena liegende Glacier de Pré de Bard, der noch vor wenigen Jahrzehnten bis in den Talboden reichte. Ein in der Hütte hängendes Poster dokumentiert die Veränderungen dieses Gletschers, der in den letzten dreissig Jahren von fünf auf drei Kilometer zurückging. Der Weg führt ins italienische Val Ferret hinunter, wo uns schon bald die Ausflügler mit ihren mit Picknick vollbeladenen Autos entgegen kommen. Für uns ist es unverständlich, dass diese schmale Strasse für den Autoverkehr nicht einfach unten im Tal geschlossen und die Verbindung mit einem Pendelbus gewährleistet wird. Morgen werden wir erfahren, dass erst kürzlich das hinterste Drittel der Strasse gesperrt worden sei – immerhin. Der Wiederaufstieg aus dem Tal hinaus führt uns auf die halbe Höhe des berühmten „Balcon du Mont-Blanc“, von dem aus wir nun die eindrückliche Kulisse des höchsten Berges der Alpen bewundern können. Wie bereits 1992 machen wir hier einen Stopp für ein Fotoshooting. Wir bitten Urs, eine aktuelle Kopie jenes Fotos aus dem Buch „Alpenglühn“ zu machen, auf dem wir auf einer Alpweide sitzend zu den Grandes Jorasses hinüber blicken. Alle müssen sich genau so hinsetzen wie damals, mit gleicher Arm- und Beinstellung…
Es geht weiter dem Hang entlang zum Rifugio Bertoni, wo es zur Stärkung erst einmal einen Teller Pasta gibt. Kurz vor der Hütte haben wir tief unter uns Le Palud mit der Einfahrt in den Montblanc-Strassentunnel erblickt. Daneben die Talstation des neuen SkyWay Monte Bianco hinauf auf die 3462 m hohe Pointe Helbrunner unter dem Mont-Blanc. Mit dem SkyWay wird die Kapazität der Bahnverbindung hinüber nach Chamonix weiter erhöht, obwohl die Umweltschutzorganisaition Mountain Wilderness weiterhin den Rückbau der Gipfelbahn über den Gletscher fordert, weil dafür nie eine rechtskräftige Bewilligung vorgelegen habe. Im Rifugio Bertoni treffen wir auf die TransALPedes-Route von 1992, wo wir nach einer Gewaltsetappe mit 1700 m Aufstieg und 2200 m Abstieg von der Testa Bernarda hinunter kamen. Nach einem steilen Abstieg treffen wir in Courmayeur ein, einer der ältesten und berühmtesten Fremdenverkehrsorte der Alpen und der heimlischen Haupstadt der AlpinistInnen.