Wir starten ganz zuoberst in der Altstadt von Briançon beim altehrwürdigen Hotel Rempart. Es diente früher als Gasthaus für die Reisenden, die mit der Postkutsche über den Montgenèvre fuhren. Während des Spaziergangs hinunter durch die Altstadt erinnern wir uns daran, dass Briançon 1992 noch eine Garnisonsstadt des französischen Militärs war. Das hat sich geändert und heute dominiert der Tourismus das Stadtbild mit Restaurants und Boutiquen. In einem der ehemaligen Forts soll ein Luxushotel eingerichtet werden, mitsamt Aufzug aus der Stadt hinauf.
Beim Maison des Jeunes et de la Culture treffen wir Jussuf (Name geändert) aus Westafrika, der heute mit uns mitwandert. Nach einer langen und gefährlichen Flucht zu Fuss über das Mittelmeer und über den Col de l’Echelle hofft er nun darauf, dass er als Angehöriger einer verfolgten ehtnischen Gruppe seines Landes in Frankreich als Flüchtling aufgenommen wird. Zusammen mit Hélène Denis, die heute und morgen mitwandert, studiert Jussuf den Artikel, den heute die Regionalzeitung Dauphiné libéré über die jüngste Aktion von Mountain Wilderness veröffentlicht hat. Am vergangenen Wochenende reinigten rund siebzig AktivistInnen einen Bergrücken nahe Briançon von Überbleibseln des letzten Krieges. Insgesamt wurden 15 Tonnen Stacheldraht, Stahlseile und Eisenstücke abtransportiert. Mit beteiligt war auch eine Gruppe von Flüchtlingen, darunter Jussuf.
Unsere Wanderung führt oberhalb vom Lac Pont Baldy durch und nach Cervières. Zwar gibt es keine Wegmarkierungen, aber irgendwie finden wir zwischen Bach, Talstrasse und Geröllhang immer wieder einen Durchschlupf. In Cervières rasten wir im Bistro am Place du 4 septembre 1944. Dieser Name erinnert an die Verbrechen von Angehörigen der deutschen Wehrmacht, welche den kleinen Ort bei ihrem Rückzug vor den Allierten vor über siebzig Jahren niederbrannten. Leider begegneten wir auf unserer Wanderung solchen historischen Zeugnissen in letzter Zeit häufig. Sie erinnern daran, dass der französisch-italienische Alpenkamm immer wieder Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen war.
Dem Flüsschen Cerveyrette entlang geht es weiter ins Val des Fonts mit seiner sanften Topographie. Umso mehr stört uns das mit wenig Sensibilität in den Bach hinein gebaute Kleinkraftwerk. Entlang der whatsalp-Route ist uns aufgefallen, dass in jüngerer Zeit eine grosse Zahl von solchen Anlagen neu entstanden ist, oft unter der Regie von Gemeinden, die sich daraus zusätzliche Einnahmen erwarten. Ob die geringen zusätzlich produzierten Strommengen die daraus resultierenden Naturzerstörungen rechtfertigen, stellen wir in Frage. Dass Argument, dass solche Kleinkraftwerke einen wesentlichen Beitrag an die Energiewende leisten, hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Weiter hinten weitet sich das Tal zum ausgedehnten Flachmoor Bourget und stimmt uns wieder versöhnlich, bevor wir gegen Abend in der wunderschön im Talschluss gelegenen Gîte d’Etappe Les Fonts ankommen.
Der folgende Morgen sieht uns schon früh zum Col du Malrif aufsteigen, erwartet uns doch heute ein langer Wandertag. Das erste Hindernis ist die riesige Schafherde mit gegen 2000 Tieren, die von zwei aggressiv bellenden Hüterhunden gut bewacht wird. Das ist auch nötig, denn die Wölfe sind in dieser Gegend sehr aktiv. Jeden Abend muss die Herde in ein mit Elektrozäunen abgesichertes Gehege getrieben werden, um nächtliche Überfälle zu vermeiden. Entsprechend kritisch ist Haltung der Bevölkerung und besonders der Bauern gegenüber diesem Raubtier, dass sich an vielen Orten in den Alpen von Natur aus wieder ausbreitet. Die Hunde kommen unserer Gruppe gefählich nahe und heischen unseren Respekt; so wir machen eine grossen Bogen um die Herde. Dann wird der Pfad immer steiler, und als wir oben auf dem Bergkamm ankommen, stehen wir mit 2900 m auf dem bisher höchsten Punkt der whatsalp-Tour. Uns gegenüber ragt nun der Monviso eindrücklich aus den umliegenden Bergketten heraus. Und nach Westen schauen wir nochmals ins Ecrins-Massiv mit seinem Nationalpark zurück, von wo uns die Gletscher der Barre des Ecrins und der Meije entgegenleuchten. Durch eine praktisch vegetationslose Steinwüste geht es dem Grat entlang weiter, der Weg führt nun für kurze Zeit über italienisches Gebiet, bevor wir am Col des Thures wieder nach Frankreich kommen. Frank Urs Müller, der uns ein paar Tage begleitet und Harry machen einen Abstecher auf den 3300 m hohen Brig Froid, während es der Rest der Gruppe gemütlicher nimmt. Wir befinden uns jetzt im Regionalen Naturpark Queyras, und der Weg führt über steile Grashalden hinunter zum Ortsteil Le Roux in der Gemeinde Abriès. In der Gîte d’Etappe Le Cassu treffen wir uns dann später am Nachmittag mit VertreterInnen der Gemeinde Abriès und dem sympatischen CIPRA France – Präsidenten Jean Horgues, den wir bereits in Briançon kennengelernt hatten.
Bevor wir aus der gastfreundlichen Herberge mit vorzüglicher Küche aufbrechen, fragen wir die Wirtin noch nach der Herkunft des Namens unseres nächsten Ziels, des Col d’Urine. Unsere Frage gehört wohl in die Kategorie der FAQ’s und vermag der Wirtin nur ein müdes „je ne sais pas“ abzuringen. Doch eigentlich ist diese Information gar nicht wichtig und wir steigen bei klarem, schon etwas herbstlichem Wetter das schöne, mit Lärchen bestandene Tal hinan. Wie schon 1992 erwartet uns auf der italienischen Seite des Passes der Nebel. Vor 25 Jahren diskutierten Harry und Dominik an dieser Stelle, ob der Nebel mit der Luftverschmutzung in der nicht weit von hier liegenden Poebene zu tun habe. Auch heute haben wir keine schlüssige Antwort auf diese Frage und tauchen auf dem Wanderweg in die Nebelsuppe des Valle Pellice hinab. Nach weniger als zwei Stunden erreichen wir die Conca del Prà, wo uns das Rifugio Jervis mit einem Vino Frizzante empfängt.
Ausser dem Namen des Rifugio Jervis erinnert heute kaum noch etwas auf dieser stillen Alp an die blutigen Kämpfe, die hier am Ende des Zweiten Weltkrieges zwischen den Partisanen und den deutschen Besatzungstruppen ausgetragen wurden. Der Widerstandskämpfer Willy Jervis war am 5. August 1994 von den Deutschen auf dem Dorfplatz von Villar Pellice hingerichtet worden. Aus der Luft versorgten die Alliierten damals die Partisanen mit überlebenswichtigem Nachschub. Im Wanderlesebuch „Partisanenpfade im Piemont. Orte und Wege des Widerstands zwischen Gran Paradiso und Monviso“ haben Sabine Bade und Wolfram Mikuteit Episoden der Partisanengeschichte festgehalten und Wanderungen zu den historischen Schauplätzen beschrieben.
Das Valle Pellice besitzt die grösste Dichte an Käsereien im Piemont. Nicht ohne den Einkauf in der der Käserei neben der Hütte zu verpassen, überqueren wir nach einer Hüttennacht die ausgedehnte Hochfläche der Concà del Pra. Kein Wunder, dass bei solch schönen Alpweiden ein guter Alpkäse ensteht! Gemäss Aussagen des Bürgermeisters von Abriès kommen manchmal sogar Leute aus dem Queyras mit dem Mountainbike hier hinüber, um sich mit Käse einzudecken. Hinter der Ebene geht es zum Rifugio Granero hoch, wo wir vor 25 Jahren noch einer Gruppe von alten Partisanen begegneten, die sich hier jährlich zur Erinnerung an ihre gemeinsame Geschichte trafen. Nach dem Cafè in der Hütte steigen wir über eine steile Halde zum Col Sellière hinauf. Nun wieder in Frankreich, sehen wir uns dem bereits im Nebel steckenden Monviso gegenüber, der uns den angekündigten Schlechtwettereinbruch anzeigt. Unter uns breitet sich der hochgelegene Talkessel mit dem Réserve Naturelle Ristolas-Monviso und dem Refuge Viso aus. Als wir um 14 Uhr in der Hütte ankommen, beginnt es zu regnen. In der Höhe schneit es und jener Teil der Gruppe, welche am Folgetag den Monviso besteigen wollte, muss seine Pläne begraben.