Transitverkehr, sanfte Mobilität und Willkommenskultur – von Bonneval-sur-Arc nach Briançon, 28. August – 3. September 2017

Es riecht schon ein bisschen nach Herbst, als wir heute früh in Bonneval aufbrechen. Das kleine Dorf scheint sich seit 1992 kaum verändert zu haben und konnte seine Authentizität weitgehend bewahren. Wir trafen uns damals mit dem legendären Bürgermeister Gilbert André, der aus Bonneval ein Modell für den französischen Tourisme doux machte. Heute spricht hier niemand mehr vom sanften Tourismus. Vielmehr sucht die Gemeinde mit ihrem Skigebiet den Anschluss an Val d’Isère, von wo verlockende finanzielle Angebote kommen. Glücklicherweise verhindert der Vanoise-Nationalpark einen solchen Zusammenschluss, womit die letzten naturnahen Landschaften für uns Wandernde erhalten bleiben.
So wandern wir das Hochtal der Haute-Maurienne hinunter und staunen über die grossen Gletscher, die linkerhand von den Gipfeln in der Morgensonne zu uns hinüberleuchten. Am ehemaligen Steinbruch beim Rocher du Château mit seiner eindrücklichen Felswand weisen uns Tafeln darauf hin, dass hier Menschen seit Jahrtausenden am Werk sind und sich die Natur zunutze machen. Die Kaffeepause machen wir heute in Bessons, einem jetzt am Saisonende verschlafenen Dorf mit Boucherie, Boulangerie und Auberge auf dem Dorfplatz. Der alte Wirt öffnet gerade die Läden seines Cafés, als wir dort um halb elf eintreffen und serviert uns tatsächlich einen Café au Lait. Wie die meisten anderen Dörfer der Haute-Maurienne hat auch Bessans seinen traditionellen Charakter verloren, nachdem hier im Zweiten Weltkrieg beim misslungenen Versuch Mussolinis, Savoyen zu erobern, alles zerstört wurde. Am frühen Nachmittag erreichen wir Lanslebourg, wo uns Marc-Jerôme Hassid von der CIPRA zum Treffen in Termignon abholt.
Der nächste Tag beschert uns mit gegen vierzig Kilometern die vermutlich längste whatsalp-Etappe, die wir ursprünglich mit dem Velo bewältigen wollten. In Lanslebourg gehen wir ein kurzes Stück auf der Strasse zum Mont Cenis, einer jener Alpenübergänge, die die legendäre Alpenüberquerung von Hannibal für sich in Anspruch nehmen. Die seinerzeitigen Ausbaupläne für diesen Pass scheinen nicht mehr aktuell, jedenfalls ist die Strasse im Ort verkehrsberuhigt. Vielleicht ist es diese historische Form des Langsamverkehrs, die die Gemeinde Mont-Cenis Mitglied im alpenweiten Netzwerk für sanfte Mobilität „Alpine Pearls“ werden liess. Der Weg bis nach Modane ist weiter als erwartet und so verpassen wir leider den vereinbarten Schwatz mit Nicole Seltzer, die wir in der Veranstaltung am Vorabend kennenlernten. Als engagierte Gemeinderätin aus Modane und Präsidentin der Tourismusorganisation Modane-Val Fréjus hätte sie uns wohl ein paar interessante Informationen vermitteln können. Stattdessen steuert sie für unseren Blog einen Beitrag bei.
Weniger sanft ist der Verkehr oberhalb von Modane, wo wir auf die neunte Alpentransitstrasse während unserer Wanderung treffen. Dass der Fréjus der wichtigste Strassentunnel zwischen Frankreich und Italien ist, erkennen wir an den zahlreichen Lastwagen, die an uns vorbeiziehen. Tief unter uns liegt der Bahnhof von Modane am Eingang zum Mont-Cenis-Eisenbahntunnel, einer der fünf historischen Schienendurchstiche der Alpen. Beim Schlussaufstieg 600 Höhenmeter auf dem alten Fréjus-Passweg hinauf nach le Charmaix werden wir vom Nebel eingehüllt, sodass wir uns von der tief in der Schlucht liegenden Notre-Dame du Charmaix beschützen lassen müssen. Kurze Zeit später begrüsst uns der freundliche Wirt in der gemeindeeigenen Gîte de Tavernes in le Charmaix freundlich, wir sind die einzigen Gäste. Hier erfahren wir, dass die mittelgrosse Station le Charmaix-Fréjus das touristische Zentrum der Gemeinde Modane bildet und von dieser – wie viele andere Skigebiete dieser Grössenordnung in den französischen Alpen – finanziell kräftig unterstützt wird. Zum Nachtessen gibt es ein Beaufort-Käsesoufflé mit Kartoffeln, ein typisches Gericht für diese Gegend.
Beim Aufstehen herrscht immer noch dichter Nebel und es nieselt leicht. Als Übergang nach Italien wählen wir heute nicht den Col de Fréjus, sondern versuchen es über den Col de la Roue (ital. Colle della Rho). Damit können wir das von der Gemeinde für 4×4-Fanatiker offiziell bewilligte Gelände grossräumig umgehen. Beim Aufstieg studieren wir die Tafeln des Sentier de la Memoire, die wie auch die zahlreichen Befestigungsanlagen an die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Italien und Frankreich erinnert. Kurz vor dem Col lichtet sich der Nebel und die Sonne taucht die kahle Berglandschaft in gleissendes Herbstlicht. Das passt zu den völkerverbindenden Worten, die auf der Passhöhe gegen den italienischen Faschismus zu lesen sind.
Der Abstieg über den einsamen Piano dei Morti ist für einmal frei von Skiliften und Skipisten, und schon bald wird Bardonecchia sichtbar (französisch-okzitanisch Bardonnèche, der Name Bardonecchia entstand erst mit der Italianisierung im Faschismus). Hoch über dem Ort zieht sich die neue Autobahn hin, welche im Hinblick auf die Winterolympiade Turin 2006 fertiggestellt wurde. Wir erreichen das kleine Städtchen im obersten Susatal, wo wir im altehrwürdigen Hotel Someiller gleich neben dem Bahnhof einquartiert sind. Das Hotel wurde 1884 nach der Eröffnung der Mont-Cenis-Eisenbahnlinie erbaut und lag damals an der wichtigsten Verkehrsverbindung zwischen Paris und Mailand. Heute steigen immer weniger Sommergäste hier ab und der Betrieb lebt vor allem von der Wintersaison.
In Bardonecchia stösst wieder eine Gruppe von Jugendlichen des CIPRA-Projekts whatsalp youth zu uns, denen wir unsere Erfahrungen seit dem letzten Treffen in Südtirol vorstellen. Eigentlich wäre heute Abend ein Ortstermin mit der Legambiente zur geplanten Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon – Turin geplant gewesen, aber die VertreterInnen von „NO TAV“ bleiben aus unerfindlichen Gründen fern. Das umstrittene Projekt sieht einen 57 Kilometer langen Basistunnel für Hochgeschwindigkeitszüge zwischen dem französischen St-Jean-de-Maurienne und dem italienischen Bruzolo vor. Seit über zehn Jahren gehen die Gegner des Projektes im italienischen Susatal mit grossen Demonstrationen an die Öffentlichkeit. Sie und viele Umweltverbände wie die Legambiente, ziehen nicht nur dessen Nutzen in Zweifel, sondern weisen auch immer wieder darauf hin, dass die Tunnelarbeiten durch asbest- und uranhaltiges Gestein geführt werden sollen. Inwieweit die neue Strecke Orte wie Modane und Bardonecchia vom internationalen Bahnnetz abhängen würde, bleibt offen. Wir haben zu dieser Frage auf beiden Seiten der Grenze unterschiedliche Meinungen gehört.
Mit Begleitung der Jugendlichen ziehen wir am nächsten Morgen wieder als grössere Gruppe aus Bardonecchia hinaus dem Col de l’Echelle entgegen. Mit dabei sind auch Dominik’s Arbeitskollegen Peter und Christian, die uns einen Überraschungsbesuch abstatten und bis zur Passhöhe mitwandern. Der Aufstieg zum Pass führt durch das seinerzeit umkämpfte Grenzgebiet, von dem Italien nach dem Zweiten Weltkrieg das Vallée Etroite an Frankreich abtreten musste. Heute überqueren wir die Grenze auf einem kleinen Weg im Wald, ohne dass diese im Gelände sichtbar würde. Oben am Pass nehmen wir den historischen Passweg, der über eine Leiter und einen mit Ketten gesicherten Pfad führt.
Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen ist, dass wir von der im Gelände versteckten französischen Grenzpolizei genau beobachtet werden. Der Col de l’Echelle ist seit einigen Jahren eine Fluchtroute für aus Italien kommende Emigranten, vormehmlich junge Männer aus dem frankophonen Afrika, die hier nachts über den Pass gehen. Die Situation ist dramatisch und die Flüchtlinge versuchen sich auch bei Schnee und schlechtem Wetter durchzuschlagen. Mitglieder von Hilfsorganisationen versuchen unter grossen Risiken, diesen Menschen zu helfen. Vor zwei Wochen verunfallten zwei junge Männer schwer, als sie vor den französischen Grenzpolizisten flüchteten. Am Abend berichtet uns ein Wirt im Tal, dass die Flüchtlinge in der Clarée eintreffen und nach einem Job fragten. Er würde ihnen gerne helfen, aber ausser ihnen etwas zu Essen geben könne er nichts für sie tun. Der weitere Weg nach Briançon führt uns der Clarée entlang das gesamte Tal hinunter, auf das wir einen anderen Blick haben als die Hunderten von Emigranten, die diesen Weg ebenfalls wählen müssen.
Das Val de la Clarée war wie Bonneval-sur-Arc lange Zeit ein Musterbeispiel für den sanften Tourismus. Vor 25 Jahren hatte TransALPedes in Plampinet ein Treffen mit der BürgerInneninitiative Collectif de Défense de la Clarée, welche sich hier gegen einen neuen Autotunnel zwischen Frankreich und Italien und für den Schutz der Clarée einsetzte. 1992 wurde das Tal unter Naturschutz gestellt, das Tunnelprojekt ist heute glücklicherweise nicht mehr aktuell. Die Clarée vermochte ihre Ursprünglichkeit zu bewahren, einmal abgesehen vom starken Freizeitverkehr im Tal und vom grossen Parkplatz vor dem Dorfeingang von Névache. Allerdings wurde in den letzten Jahren immer wieder von einem Autotunnel unter dem Montgenèvre gesprochen, der von Briançon nach Susa führen würde. Um 13 Uhr treffen wir in Briancon ein, wo bereits Gerhard und Gudrun auf uns warten. Gemeinsam fahren wir zu François Labande nach La Salle, wo wir auch Riccardo Carnovalini vom TransALPedes-Kernteam von 1992 treffen.