Als wir heute Morgen aus dem Fenster schauen, herrscht dicker Nebel und null Sicht. Was wir für eine Gruppe seien, will der Hüttenwirt wissen, weil jeder einzeln bezahlt. Am Schluss ist die Konfusion total und der Custode ist einfach froh, dass er viel Geld in der Kasse hat. Beim Aufbruch um neun Uhr lichtet sich der Nebel und die beiden Stauseen werden sichtbar. Wir überschreiten die Mauerkrone und staunen über die riesigen Wassermassen, die hier aus einem Sammelkanal in den See geleitet werden. Sie kommen unter dem Berg hindurch von bis zu fünfzig Kilometern entfernten Bachfassungen im Gaviatal und am Stilfserjoch, die meisten im Nationalpark. Auf der Staumauer befinden wir uns zwischen dem höher gelegenen Lago di San Giacomo di Fraéle und dem tiefer liegenden Lago di Cancano, aus dem wegen dem niedrigem Wasserstand die Reste von Grundmauern herausschauen. Wie an vielen Orten in den Alpen versanken hier jahrhundertealte Alpsiedlungen unter dem aufgestauten Wasser.
Dann steigen wir das Tobel zur Cascine dell’Alpe Trela hoch, wo es den ersten Caffè gibt. Heute sind wir mit mindestens einem halben Dutzend GeographInnen unterwegs, die Diskussion über den besten Weg scheint unvermeidlich. Geht unsere Route nun über die geradeaus führende Bocchetta Trelina oder über die Bocche di Trela linkerhand? Die erste Variante schwingt oben aus und so hüpfen wir die Alpweiden hinauf, bis wir nach Valdidentro und Bormio hinunterblicken können. Gegenüber erkennen wir die im Sonnenlicht gleissenden Gletscher am Cevedale, über die Dominik und Harry mit TransALPedes 1992 vom Rifugio Casati nach Bormio hinunter gekommen waren. Dominik erinnert sich, wie Jürg auf dem Abstieg seinen Taschenradio auspackte und eine Radiosendung hörte, in der vor der Ankunft der „Greenpeace-Wanderung“ im Veltlin gewarnt wurde. Diesmal steigen wir nicht nach Bormio hinunter, sondern setzen uns zur Mittagsrast ins Ristorante in der Strassenkurve von Arnoga, umkreist von Autos und Lastwagen, die den Zollfreiort Livigno mit TouristInnen und Konsumgütern bedienen. Das Val Viola bildet den Zugang zur Grenze und führt nach Poschiavo hinüber. Doch zunächst steigen wir das stille Tal zum Rifugio Federico in Dosdé an, das seit einigen Jahren auf einer weiten Alp unter den Gletschern der Cima Viola und der Cima Lago Spalmo liegt.
Am folgenden Morgen berichtet uns Mitwanderin Christa vom starken Regenfall, der sie um den Schlaf gebracht hätte. Man und frau ist sich jedoch rasch einig, dass es in der Nacht nicht geregnet hat und zeigt der Mitwanderin den Bergbach, der das Rauschen verursachte, was bei ihr ein herzhaftes Lachen verursacht. Unser weiterer Weg führt nun die letzten 200 Meter auf den Pass da Val Viola und zur Grenze hoch und dann ins gleichnamige Bündner Tal hinein. Unten im lieblichen Val di Camp erinnern sich einige von uns an die Skitouren, wie wir vom Rifugio Saoseo aus immer wieder unternommen haben. Hüttenwart und Bergführer Bruno Heis ist allerdings nicht da, er sei gerade mit Gästen am Ortler unterwegs, richtet uns Tochter Sandra aus.
So verlassen wir die Hütte nach einem frisch gebackenen Stück Quarktorte wieder und steigen nach Sfazù und Poschiavo hinunter. Heute Nachmittag bevölkert die whatsalp-Gruppe das ganze obere Val Poschiavo und verteilt sich auf die verschiedenen Abstiegsvarianten zwischen Fussweg, Postauto und Eisenbahn. Doch hier kann man sich nicht verirren und abends finden sich alle auf der Plaza im sommerlich warmen Städtchen Poschiavo wieder.