In Tignes treffen wir heute Nachmittag auf Vizepräsident Patrick Le Vaguerèse und Co-Geschäftsführer Vincent Neirinck von Mountain Wilderness France und Jean-Louis Mongo von der Gruppe „No Ski Line“. Die VertreterInnen der Gruppe „Vivre en Tarantaise“, die wir vor 25 Jahren zu einem Ortstermin trafen, haben sich entschuldigt. Mit der Skistation Tignes hatten wir uns bereits damals intensiv beschäftigt. Bei unserem heutigen Besuch stellen wir fest, dass der Ort heute deutlich Betten aufweist als damals und der Tourismus noch intensiver geworden ist. Neue Lifte und Beschneiungslagen zeugen davon, Aktivitäten wie Mountainbiken sind dazu gekommen und hinterlassen ihre Spuren auf den Wegen und in der Berglandschaft. Gemäss Auskunft unserer Gesprächspartner liegt das Verhältnis zwischen Winter- und Sommersasion wie 1992 immer noch bei rund 85 zu 15 Prozent. Mit dem wirtschaftlich erfolgreichen Skitourismus (die Bergbahnen Tignes-Val d’Isère gehören zum Skimulti Compagnie des Alpes) weist Tignes eine steigende Bevölkerungszahl auf, und auf rund 2000 EinwohnerInnen kommen etwa 200 Schulkinder.
Hauptthema des heutigen Gesprächs ist das aktuelle Projekt „Ski Line“, das die Gemüter in der Region erregt. Jean-Louis Longo, bis vor zwei Jahren Direktor der Sportgesellschaft von Tignes, stellt uns das Projekt vor, das vor einem Jahr von Bürgermeister Jean-Christophe Vitale lanciert wurde. Danach soll auf einer Skipiste oberhalb von Tignes die erste Indoor-Skianlage der Alpen entstehen, kombiniert mit einer Halle für Wellensurfer. Mit 400 m Länge, 50 m Breite und einer Höhe von 12 m sind die Dimensionen dieser Anlage enorm. Die reinen Baukosten werden offiziell mit rund 63 Mio. Euro angegeben, hinzu kommen weitere Kosten für die Umgebungsarbeiten. Hintergrund des Projektes ist der Klimawandel, der den Gletscher im Skigebiet Grande Motte stark abschmelzen lässt. Bereits im Jahr 2000 musste Tignes seinen Status als 365-Tage-Skigebiet aufgeben. Mit dem Projekt „Ski Line“ will man nun zum Ganzjahres-Skigebiet zurückkehren und sich damit im umkämpften Skifahrermarkt einen Vorteil verschaffen. Doch noch steht das Bauprojekt nicht, denn neben einem Investor sind dafür auch weitreichende Ausnahmegenehmigungen von übergeordneten Stellen notwendig.
Die Gegner des Projektes haben sich in der lokalen BürgerInneninitiative „No Ski Line“ organisiert. Sie sind der Meinung, dass es nun einen öffentlichen Reflexionsprozess über die Zukunft der Skistation Tingnes braucht. Die Klimaerwärmung sei nun einmal eine Tatsache und das Abschmelzen der Gletscher könne mittelfristig nicht verhindert werden, auch auf der 3600 m hohen Grande Motte nicht. Dabei gehe es nicht zuletzt um den Skitourismus als Ganzes, denn wenn man in einer Station wie Tignes auf 2000 m Höhe nicht mehr Skifahren könne, dann wohl auch woanders in den Alpen nicht mehr, meint Jean-Louis Mongo. Eine von 900 Personen unterzeichnete Petition, fast die Hälfte der EinwohnerInnen von Tignes, unterstützt diese Position und wendet sich gegen das Projekt „Ski Line“.
In der folgenden Diskussion betont Vincent Neirinck von Mountain Wilderness, dass für ihn der Bau einer Indoor-Skianlage in den Hochalpen auch aus ethischen Gründen abzulehnen sei. Diese Art von Freizeitinfrastrukturen habe in einem alpinen Skiort nichts zu suchen und könne allenfalls am Rand von bevölkerungsreichen Ballungszentren Sinn machen. Falls Stationen wie Tignes damit begännen, Indoor-Skianlagen zu bauen, würden sie sich damit selber das Grab schaufeln. Wo läge dann noch das Besondere an einem Skiort in den Bergen, wenn hier genau das Gleiche angeboten werde wie in den Grossstädten in der Ebene?
Die Gruppe „No Ski Line“ wird von Mountain Wilderness France unterstützt. Das Gespräch verlagert sich nun auf die Aktivitäten dieser engagierten Alpenschutzorganisation. Patrick Le Vaguerèse erläutert die zweigleisige Strategie von Mountain Wilderness France: Einerseits bemüht man sich, über die Einsitznahme in offiziellen Gremien wie das Comité du Massif des Alpes Einsicht in die Dossiers zu erhalten und Stellungnahmen zu Planungen und Projekten abzugeben. Andererseits organisiert Mountain Wilderness immer wieder Aktionen vor Ort, um die Aufmerksamkeit auf umweltunverträgliche Aktivitäten zu lenken, an denen manchmal mehrere Hundert AktivistInnen teilnehmen. Damit konnten bereits wesentliche Erfolge erzielt werden, wie beim illegalen Quad- und Schneemobilfahren in der Natur. Ein wichtiger Teil der Arbeit von Mountain Wilderness stellt zudem die Öffentlichkeitsarbeit und Sensibilisierung der TouristInnen zu den Problemen der Alpen dar.