Kloster und Nationalpärke – von Glurns zum Rifugio Fraele

 

Bereits für die Abendveranstaltung auf Plavenn sind einige neue Gesichter dazu gestossen, so dass wir an diesem Sonntagmorgen in beachtlicher Gruppengrösse unterwegs sind. Als kleiner Tross verlassen wir Glurns bei herrlichem Wetter und steigen zum Waalweg hoch, der sich der rechten Talflanke entlang schlängelt. Die Waale (Bewässerungskanäle) waren für das trockene Tal früher überlebenswichtig. Sie leiteten das kostbare Nass aus den meist wasserreichen Seitentälern in die Hangwiesen des Haupttales, insgesamt etwa 600 km. Heute haben die Waale ihre Bedeutung meist eingebüsst. Dies erfahren wir nach einer halben Wegstunde, als wir wegen eines abgerutschten Teilstücks hoch den Berg hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter steigen müssen.

Wir sind nun im Stilfserjoch Nationalpark, nach den Hohen Tauern der zweitgrösste Nationalpark der Alpen; er erstreckt sich von hier über mehr als 1200 qkm bis ins Trentino und in die Lombardei, mit dem Ortler als höchster Erhebung. In einer Waldlichtung blicken wir auf die Kapelle hinunter, die im Tal zur Erinnerung an die Schlacht an der Calven errichtet wurde. 1499 schlugen hier die Bündner ein Tiroler Heer vernichtend – ohne Rücksicht auf Verluste. Konrad hatte gestern erzählt, dass die Erinnerung an diese Schlacht bei den VinschgauerInnen immer noch präsent sei und das Verhältnis zu den westlichen Nachbarn mitpräge. Wie dem auch sei, weder im Vinschgau noch im Münstertal hatten wir den Eindruck erhalten, dass die nachbarschaftlichen Beziehungen besonders eng seien. Dabei ist die Grenze, über die der Wanderweg nach einiger Zeit führt, im Gelände kaum mehr erkennbar. Eine nüchterne Tafel weist darauf hin, dass Barmittel von 10‘000 Euro und mehr beim Zoll angemeldet werden müssen. Dann sind Harry und Dominik nach sieben Wochen und 700 Kilometern erstmals wieder in der Schweiz.

Wir befinden uns hier auf der untersten der drei Talstufen des Val Müstair, der Terzal d’Oura (äusseres Drittel). Weiter oben befinden sich die Terzal d’Immez (mittleres Drittel) und die Terzal d’Aint (inneres Drittel). Auch die konfessionelle Situation, die uns in Österreich immer wieder beschäftigt hat, ist hier interessant. Das äussere Drittel ist katholisch, während die anderen Orte reformiert sind. Die Mittagspause machen wir beim Benediktinerinnen-Klosters Son Jon in Müstair, das sich hier bereits seit dem 8. Jahrhundert befindet. Später sicherte sich der Bischoff damit den Zugang zum bis 1816 zum Bistum Chur gehörenden Vinschgau. Heute leben im Kloster noch 12 Nonnen, seit 2012 nach langer Zeit wieder mit einer Priorin rätoromanischer Muttersprache. 1983 war das Kloster Müstair zusammen mit der Zähringerstadt Bern und der barocken Fürstabtei St. Gallen von der UNESCO als erstes Schweizer Weltkulturerbe anerkannt worden. Anschliessend geht es weiter in den Münstertaler Hauptort Sta.Maria, wo wir heute übernachten.

Am nächsten Morgen führt uns die Wanderung aus dem Haupttal heraus das Val Mora hoch, ein wenig berührtes, landschaftlich unversehrtes Juvel im Naturpark Biosfera Val Müstair. Je höher wir steigen, desto alpiner und karger wird die vom hellen Kalkgestein geprägte Bergwelt mit ihren weiten Schotterfächern. Das Tal ist alpwirtschaftlich intensiv genutzt und wir erinnern uns an den Hinweis von Beat Wartmann von gestern Abend. Denn tatsächlich sehen wir im Val Mora kaum Orchideen, weil hier der Stickstoffeintrag der Viehwirtschaft so hoch ist. Annette entdeckt am Wegrand dann doch ein paar Männertreu, die die dauernde Nitratdusche von den Kühen überstanden haben. Schon bald überschreiten wir die Wasserscheide zwischen dem Adriatischen Meer und dem Schwarzen Meer und raten, welcher Bach wohl in welches Meer fliesst.

Norman, der uns die nächsten Tage begleitet, hat für heute einige Ortstermine vorbereitet. Neben seiner Aufgabe als Präsident der Forschungskommission des Schweizerischen Nationalparks arbeitet er als Professor am Geographischen Institut der Universität Zürich und interessiert sich für die sozio-ökonomischen Aspekte des Naturschutzes. Seit einigen Jahren betreut er Arbeiten in und um den Nationalpark sowie die Biosfera Val Müstair. Dabei geht es um die Wahrnehmung unterschiedlicher Gruppen von Touristen, aber auch um die Befindlichkeit der lokalen Bevölkerung sowie die mediale Darstellung der Schutzgebiete. Auf der Alp Sprella, nun in Sichtweite des Nationalparks, informiert uns Norman über die Studie zur Wertschöpfung des Schweizerischen Nationalparks. Die von ihm selbst geleitete Untersuchung ergab für Nationalpark und Biosfera Val Müstair eine durch den Sommertourismus generierte Wertschöpfung von gut 23 Millionen Schweizer Franken pro Jahr, was knapp 300 Vollzeitstellen entspricht. Norman erläutert kurz, wie eine solche Studie durchgeführt wird und mit welchen Herausforderungen Forschende konfrontiert werden. Fragen die sich stellten waren beispielsweise: Wie gewährleistet man die repräsentative Auswahl von Befragten? Wie kann festgestellt werden, welcher Teil der Wertschöpfung auf den Nationalpark zurückgeht? Und wie ermittelt man den Mehrwert, der durch einen ausgegebenen Franken erzielt wird?

Etwas später erzählt uns Norman von weiteren Studien, wonach es im Nationalpark auch heute noch Wilderer gebe und das für die einheimische Bevölkerung ein schwieriges Thema sei. Wilderer gehörten nicht nur ins Reich der Heimatliteratur, sondern seien in gewissen Gebieten nach wie vor Teil der jagdlichen Realität sowie ein bedeutender Risikofaktor für den Naturschutz. So seien immer wieder Verstecke, in denen Wilderer jahrelang die Jagdtrophäen verborgen hätten, gefunden worden. Mit interessanten Inputs für weitere Gespräche versehen, biegen wir in den Weg entlang der Aua da Val Mora ab, der uns durch die bizarre Kalklandschaft in die oberste Ecke des italienischen Veltlin hinunter führt. Immer wieder müssen wir auf dem oft schmalen Pfad den Mountainbikern Platz machen, die hier in grosser Zahl und mit manchmal hoher Geschwindigkeit unterwegs sind. Als sich in einem Steilhang zwei grössere Bikergruppen begegnen und wir auch noch im Weg stehen, eskaliert die Situation und einige Radfahrer beschimpfen sich gegenseitig. Auch wir ärgern uns über den Verkehr, der uns ständig zum Ausweichen zwingt, schweigen aber. Bei der nächsten Pause stellt Gerhard Fitzthum, der seit Meran dabei ist und einen Beitrag für die Frankfurter Allgemeine schreibt, die Frage, ob das wirklich jener Bergtourismus sei, den wir uns wünschten. Auf seinen Wanderungen stelle er fest, dass die MountainbikerInnen die Wandernden immer stärker bedrängten, und dies sogar hier mitten im Nationalpark Stilfserjoch. In der Gruppe entspinnt sich eine Diskussion über dieses Problem, ohne dass jemand eine Lösung bereit hätte.

Wir überschreiten nun wieder die Grenze nach Italien und kommen erneut in den Stilfserjoch-Nationalpark. Sozusagen auf fremdem Territorium informiert uns Norman über die Geschichte des Schweizerischen Nationalparks. Dieser wurde im Jahre 1914, kurz vor Ausbruch des 1.Weltkrieges, als erster in den Alpen und als zweiter in Europa gegründet. Einige Wochen später, gibt Norman zu bedenken, wäre die Vorlage wohl nicht mehr durchs Parlament gekommen und die Schweiz hätte heute vielleicht keinen Nationalpark. Gründerväter des Nationalparks waren damals Fritz und Paul Sarasin, Carl Schröter sowie der Engadiner Steivan Brunies. Sie betrachteten die fortschreitende Erschliessung der Bergwelt und die zunehmende Industrialisierung mit Sorge. Sie gründeten den Schweizerischen Bund für Naturschutz, um dieser Entwicklung Gegensteuer zu geben. Ihre Vision: Es soll ein Stück Land reserviert werden, in dem sich die Natur – vom Menschen ungestört – entwickeln kann. Fördernde Faktoren für die Nationalparkgründung waren in jenen Jahren das Ausbleiben der Pachterträge von den Bergamasker Hirten wegen der Maul- und Klauenseuche und sinkende Erträge aus der Forstwirtschaft. Bis heute erhalten die Nationalparkgemeinden mehr Geld vom Bund, als sie mit der alpenwirtschaftlichen Nutzung einnehmen würden, betont Norman.

Die unter uns fliessende Aua da Val Mora mündet in den Livigno-Stausee, aus dem wiederum der Spöl abfliesst. 1957 hatte die Schweizer Bevölkerung nach einem hektischen Abstimmungskampf der Konzessionserteilung an die Engadiner Kraftwerke für die Wassernutzung des Spöls auf Nationalparkgebiet zugestimmt. Der Glaube an das Wirtschaftswunder war den SchweizerInnen damals wichtiger als die uneingeschränkte Erhaltung ihres Nationalparks. Grosse Publizität erfuhr der Spöl 2013 durch einen Zwischenfall bei den Engadiner Kraftwerken. Aufgrund eines technischen Defekts bei der Staumauer Punt dal Gall wurde der Spölbach auf einer Länge von etwa sechs Kilometern von Schlamm zugedeckt. Tausende von Bachforellen und andere Wasserlebewesen verendeten. Einige Jahre nach dem Zwischenfall hatte sich die Bachforellenpopulation wieder deutlich erholt und ExpertInnen erwarten, dass sich das Ökosystem mit der Zeit wieder im ursprünglichen Zustand einpendeln wird.

Nun ziehen dunkle Wolken auf und wir beeilen uns, das heutige Tagesziel zu erreichen. Mit den ersten Regentropfen kommen wir im Rifugio Fraele am gleichnamigen Stausee an.