Gespräch mit Werner Bätzing über das Valle Stura am 18. September in Sambuco

Wir sitzen zusammen mit Werner Bätzing und weiteren Gästen in der Stube des Albergo della Pace in Sambuco. Einige der Anwesenden kennen den populären Hochschulgeographen seit langem, er hatte 1992 bereits das Projekt TransALPedes mit Rat und Tat unterstützt. Heute ist der mit Abstand bekannteste Alpenforscher im deutschsprachigen Raum, aber auch in Italien und Frankreich ist sein Name für viele ein Begriff. Bätzing kam 1977 zum ersten Mal in die okzitanischen Täler, im Rahmen einer Weitwanderung vom Mittelmeer ins Aostatal. Damals kam er übrigens auch mit Andrea und Maria Schneider aus dem Valle Maira in Kontakt, woraus sich eine langjährige Freundschaft entwickelte. In den 1980er-Jahren studierte er, der ursprünglich Theologe und Buchhändler war, Geographie und schrieb viel beachtete Arbeiten u.a. über das Sturatal und Naraissatal. Parallel dazu machte er Öffentlichkeitsarbeit für die Grande Traversata delle Alpi und publizierte den ersten deutschsprachigen gta-Führer. 1984 brachte Werner Bätzing sein Buch „Die Alpen – Entstehung und Gefährdung einer europäischen Kulturlandschaft“ heraus, dieser Klassiker ist bis heute in zahlreichen, z.T. völlig überarbeiteten Auflagen erschienen. Von 1995 bis 2014 war der Alpenforscher als Professor für Kulturgeographie an der Universität Erlangen-Nürnberg tätig. In dieser Funktion engagierte er sich in vielfältiger Weise für eine nachhaltige Zukunft des Alpenraumes, wobei ihm die ganzheitliche Sichtweise über die gesamten Alpen ein zentrales Anliegen ist.
Bätzing erläutert die Lage des Sturatales, dort wo die Alpen von der Nord-Süd- in die West-Ost-Richtung drehen, weshalb es das längste der okzitanischen Täler sei. Extremste Reliefgegensätze machten das Gebiet für BesucherInnen attraktiv. Er fasst kurz die Geschichte zusammen: Schon vor Jahrtausenden hätten sich hier Bauerngesellschaften angesiedelt, die über den Balkan und entlang der Küsten des Mittelmeers nach Europa eingewandert seien. Möglicherweise sei das Sturatal bereits zur Römerzeit relativ dicht besiedelt gewesen. Der Grund für diese frühe Besiedlung seien die Alpen als damaliger Gunstraum, da die grossen Ebenen erst im 19. Jahrhundert entwässert wurden. Ab dem Jahr 1000 sei aus dem kleinen Passstaat der grosse Flächenstaat Savoyen entstanden. Mit Savoyen habe eine Umorientierung der Alpentäler in Richtung Tiefebene im Osten stattgefunden. Damit seien die Täler zu wenig interessanten Randgebieten verkommen, die v.a. militärisch genutzt wurden. Seit 1515 sei das Sturatal wie die anderen okzitanischen Täler durch Kriege geschwächt worden, ein Grund dafür, dass die Ressourcen dieser Täler nicht mehr richtig genutzt werden konnten.
Die Valli Varaita, Maira, Grana und Stura sind die Täler mit dem stärksten Rückgang von achtzig Prozent der Bevölkerung. Um 1871 hatte das Sturatal rund 20’000 Einwohner, in Sambuco wohnten 1400, wovon 300 in den Frazioni. 1951 lebten ausserhalb des Ortskerns noch 39, 1961 noch 16 und 1971 noch 13 Menschen, heute niemand mehr. Bätzing führt einige historischen Gründe dafür an (neben der wirtschaftlichen Entwicklung in der Nachkriegszeit):
– Die Kleinräumigkeit der Strukturen in den Tälern bildete im Rahmen der grossen, zentralistisch gesteuerten Staaten einen Nachteil
– Minderheiten wie die Okzitanier galten als Gefahr für die Einheit im 19. Jahrhundert neu entstehenden Nationalstaaten und wurden nicht gefördert bzw. marginalisiert
– Im 1. Weltkrieg und im 2. Weltkrieg haben die Täler zahlreiche Menschen verloren, viele Rückkehrer waren traumatisiert
Bätzing erinnert in diesem Zusammenhang an die Gespräche mit alten TalbewohnerInnen, die der Schriftsteller Nuto Revelli aufgezeichnet und im Werk „Il Mondo dei Vinti“ veröffentlicht hat. Und fügt an, dass die Menschen in Tälern wie dem Valle Stura heute nicht mehr die „Mondo dei Vinti“ sein wollen.
Das Sturatal besässe eigentlich eine gute Ausgangslage für einen nachhaltigen, naturnahen Tourismus, betont der Alpenforscher. Es besitze eine sehr attraktive Landschaft, attraktive Ortschaften, eine Thermalquelle und sei gut erreichbar. Es sei auch versucht worden, in Bersezio ein Skigebiet mit Eigentumswohnungen zu entwickeln. Das Projekt ist aber gescheitetert und heute stehen die Bauruinen in der Landschaft. Die Gemeinden halten den unrentablen Skiliftbetrieb aufrecht, solange es noch geht. Ein Hautpgrund, dass sich im Tal kein florierender Tourismus entwickeln konnte, ist laut Bätzing eine tiefsitzende Abwehr in der Bevölkerung gegen alles, was von aussen komme, und damit auch ein innerer Widerstand gegen den Tourismus. Bätzing fügt an, dass eine solche Einstellung in von starker Abwanderung betroffenen Randgebieten oft beobachtet werden könne.
Eine Ausnahme bildet Sambuco mit dem Albergo della Pace. Dieses Hotel wurde von Bartolomeo Bruna aufgebaut und bildet die Basis des wirtschaftlichen Lebens im kleinen Ort. Bartolo (so sein Übername) sei seit Jahrzehnten ein Tourismuspionier im Tal. Bätzing kennt ihn seit langem und hat miterlebt, wie er in Sambuco damals eine der ersten gta-Unterkünfte einrichtete. Mit seiner regionalen Küche beglückt er Gäste von nah und fern und wurde dafür vielfach ausgezeichnet. Bätzing bedauert, dass Bartolomeo Bruna im Valle Stura der einzige Pionier geblieben ist. Kein Anderer habe es ihm nachgemacht, die Mentalität der Leute sei hier einfach so, dass sie sich das nicht zutrauen würden.
Heute gibt es in Sambuco noch einen Vollerwerbsbauern. 1750 habe es allein in Sambuco vierzig Schäfer und 3000 Schafe gegeben. Sambuco habe eine lokale Schafrasse gehabt, mit vielen Eigenschaften von Wildschafen, berichtet Bätzing weiter. Diese Razza Sambucana sei in den 1980er-Jahren beinahe ausgestorben. Nur zwei Bauern hätten aus purem Konservatismus ihre Schafe nicht mit neuen Rassen eingekreuzt und die alte Schafrasse behalten. Diese beiden Brüder, über die damals das ganze Tal gelacht hätte, förderten dann aber die alte Rasse. Plötzlich lag das innovativste Potenzial in den Händen der konservativsten Sambucaner. Heute weidet die alte Rasse wieder auf den Alpen und auf unseren Wunsch serviert uns Bartolo am nächsten Abend Pecora Sambucana.