Andreas Simmen war bis vor kurzem Lektor im Zürcher Rotpunktverlag und engagierter Förderer der erfolgreichen thematischen Wanderbuchreihen dieses Verlags. Wir werden uns damit auf der whatsalp-Tour in Sambuco in Italien noch intensiver beschäftigen. Derzeit setzt sich Andreas intensiver mit dem Hinterrhein auseinander, aus dem seine Vorfahren stammen. Heute Nachmittag empfängt uns Andreas mit einer Powerpoint-Präsentation im altehrwürdigen Bodenhaus in Splügen. Mit unserer Wandergruppe sind noch ein paar weitere Interessierte anwesend, als uns der Referent als erstes darüber belehrt, dass man hier nicht „der“, sondern „das“ Rheinwald sage. Die meisten von uns sind schon da gewesen, wenn sie mit dem Postauto oder Auto auf der A13 durch den San Bernardino-Strassentunnel gefahren sind. Das Rheinwald umfasst die Gemeinden Sufers, Splügen, Nufenen und Hinterrhein und ist Teil der Region Viamala.
Andreas beginnt gleich mit der Autostrasse A13, die der Landschaft des Rheinwald visuell und akkustisch ihr unübersehbares Gepräge gegeben hat. Sie wurde mitsamt des Tunnels durch den San Bernardino vor genau fünfzig Jahren eröffnet und bildete die erste wintersichere Nord-Süd-Verbindung der Schweiz. Im Gegensatz zu späteren Strassenbauprojekten in Graubünden habe es damals in der Bevölkerung noch kam Widerstand gegeben. Vielmehr werde und wird die A13 bis heute als Lebensader wahrgenommen, die eine bessere Anbindung des Rheinwaldes an die wirtschaftlichen Zentren ermöglicht. Dies stehe in Kontrast zum Fahrverbot, das im Kanton Graubünden bis 1925 bestand, zum Schutz des damals jungen Eisenbahnnetzes Rhätischen Bahn. Neben dem San Bernardino durchschneidet mit dem Splügenpass eine zweite wichtige Strassenverbindung das Rheinwald. Beide Routen seien schon vor Jahrhunderten beliebte Verbindungen in den Süden gewesen, wobei die Handelsroute über den Splügen nach Chiavenna hinunter ab Ende des 15. Jahrhunderts als Teil der Verbindung zwischen München und Vendeig eine grosse Bedeutung besessen habe. Heute erinnert der historische Weitwanderweg Via Spluga an diese Geschichte. Anfang Oktober veröffentlicht Andreas Simmen in der Neuen Zürcher Zeitung einen Beitrag zum 50-Jahr-Jubiläum der San Bernardino-Autostrasse.
Unser Referent wechselt das Thema und kommt auf eine andere spannende Geschichte zu sprechen. Mitten im Zweiten Weltkrieg planten Kraftwerksgesellschaften das Rheinwald mit einem neun Kilometer langen Stausee unter Wasser zu setzen. Damit hätte die Schweizer Stromproduktion auf einen Schlag um einen Sechstel erhöht werden können. Die Ortschaften wären auf die Berghänge hinauf verlegt worden und Neu Splügen sei ein Bahnanschluss samt Bahnhof versprochen worden. Mit einem überwältigenden Nein von 93 Prozent hätten die Rheinwalder Stimmbürger (Frauen durften damals noch nicht abstimmen) das gigantische Projekt versenkt. Neben der Zerstörung ihrer Dörfer akzeptierten die Rheinwalder den Verlust von rund 500 Hektaren Kulturland nicht. Andreas zitiert dazu einen Rheinwalder mit der Frage: „Sollen wir in Zukunft Tannennadeln fressen?“ Im heute vergriffenen Buch „Neu Splügen wurde nicht gebaut“ schilderte der Journalist Peter Egloff 1987 diese Geschichte eindrücklich.
Vom Grossprojekt Rheinwald ist übrigens das heutige Ausgleichsbecken Sufers übriggeblieben, welches zum ausgedehntesten Kraftwerkssystem des Kantons Graubünden gehört: 1963 erstellten die Kraftwerke Hinterrhein einen acht Kilometer langen Stausee im Valle di Lej, der zum grössten Teil auf italienischem Gebiet liegt und neben eigenem mit Wasser aus dem Avers und dem Val Madris gespiesen wird.
Andreas berichtet weiters über die Bedeutung der Landwirtschaft und des Tourismus im Rheinwald. Er führt aus, dass der Tourismus im Rheinwald nach wie vor der wichtigste Wirtschaftszweig darstelle, im Sommer der Wandertourismus, im Winter das mittelgrosse Skigebiet von Splügen. Dazu passe die Umstellung auf Bio-Landwirtschaft, welche verhältnismässig einfach gewesen sei, da für die Milchwirtschaft im Tal seit jeher auf Kunstdünger verzichtet worden sei. Hinterrhein und Nufenen produzierten in einer Gemeinschaftskäserei rund 100 Tonnen Biokäse pro Jahr. Der hochmoderne Betrieb verfüge über einen Roboter zum Käsewaschen und werde mittels Milchpipeline direkt ab den Alpen versorgt.
Zum Schluss kommen wir noch auf die Walserkultur zu sprechen, zu der auch das Rheinwald gehört. Andreas erwähnt den grossen Walserweg, auf welchem heute Wandernde die historische Walserwanderung nachvollziehen können. Ansonsten habe die Walseridentität für ihn v.a. mit der Sprache zu tun; er selber sei mit dem Prättigauer Dialekt aufgewachsen, während hier das Rheinwalder Idiom gesprochen werde. Der Historiker Jon Mathieu, der ebenfalls anwesend ist, merkt kritisch an, dass das Walsertum eine Erfindung der Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts sei. Es hätte im Alpenraum über die Jahrhunderte auch viele andere Wanderbewegungen gegeben, welche ebenso wichtig gewesens seien. Allerdings hätten es die WalserInnen besser als andere Sprachgruppen verstanden, eine eigene Identität aufzubauen und diese wirkungsvoll nach innen und aussen zu kommunizieren. Andreas lässt diese Darstellung stehen und erhält für seine Ausführungen einen Applaus.