Am 23. August 2017 ging alles rasend schnell: um 9.30 brachen ca. 3 Millionen m3 Fels aus der Nordwand des Piz Cengalo. Wenige Sekunden später wälzte sich eine riesige Mure durch das Val Bondasca bis hinunter nach Bondo. Es gibt Vermisste – acht Wanderer, die am Morgen von der Sciorahütte aufgebrochen waren, hatten vermutlich keine Chance. Unten in Bondo aber hielt das riesige Auffangbecken, dass man nach dem Felssturz von 2011 zu planen begann.
Schon dieses Ereignis ist, wie auch Christian Wilhelm vom Bündner Amt für Wald & Naturgefahren in der SRF-Diskussionssendung Club betonte, absolut singulär: Alpine Felsstürze waren bislang weder mit derartigen Wasseremissionen noch mit unmittelbaren Murgängen verbunden. Es muss erforscht werden, wie es dazu kommen konnte. Sicher aber scheint, dass diese Kombination mit dem Auftauen des Permafrosts in den Bergen zu tun hat. Deshalb wird dieses Phänomen nicht einzigartig bleiben: die Alpen & ihre Bewohner*innen werden damit rechnen müssen.
Eine nächste grosse Mure kam zwei Tage später ohne Niederschlag ins Tal. Nach heftigen Gewittern in der Nacht zum 1. September kam es zu weiteren Anhäufungen von Schlamm, Geröll und Baumstämmen. Das Auffangbecken ist inzwischen übergelaufen; das Material hat sich in die Ebene zwischen Bondo, Promontogno und Spino geschoben. War bislang die alte Strasse zwischen den Dörfern befahrbar, ist sie inzwischen begraben.
So schnell die Muren kamen, dämmert es erst langsam in den Köpfen, dass nichts wieder sein wird, wie es war. Das sanfte, sonnige Bergeller Tal – durch das im Sommer die whatsalp-Gruppe noch zu einer Veranstaltung in Chiavenna gewandert ist – ist akut bedroht. Mit dem Verkehr bricht die Lebensader des Tals zusammen: Viele arbeiten oben im Engadin, daran ist momentan nicht zu denken. Das betrifft auch viele Pendler*innen aus Italien. Die Kinder bleiben zuhause, ihre Schulen sind unzugänglich. Die Lebensmittelgeschäfte können teilweise nicht mehr versorgt werden. Die Sennerei bekommt kaum noch Milch. Teils ist der Strom ausgefallen. Eine Schreinerei, ein wichtiger Arbeitgeber im Tal, ist verschüttet. Noch ist kein Notstand ausgerufen, aber es könnte bald soweit sein. Angst macht sich breit.
Vom Mittelland, wo die grosse Politik gemacht wird, ist das Bergell der hinterste Zipfel der Schweiz – wenig wird wahrgenommen, dass hier viel lebendiges Leben herrscht. Das Tal ist nicht nur eine ans Engadin angehängte Tourismusregion, die nebenbei ihr kulturelles Erbe um die Giacomettis & Segantinis pflegt. Selten habe ich in einer Gemeinde solch einen intensiven und herzlichen Austausch erlebt: Egal ob man sich in den Gemeinschaftsgärten in Castasegna trifft. Oder Pilze, Olivenöl & Äpfel anbietet. Einfach im Café oder zu Sportanlässen oder Flohmärkten zusammenkommt. Ausstellungen in viel unbezahlter Kleinarbeit organisiert. Selbst das traditionelle Handwerk pflegt & es zu vermittelt versucht. Oder politisch aktuelle Filmvorführungen zum Thema Migration anbietet. Es sind hier die Einheimischen (vielleicht auch noch die Zweiheimischen), die diese Kultur wollen & pflegen & für sie einstehen. Wenn das die Region auch für Touristen noch interessant macht – um so besser.
Vor wenigen Wochen hat der Alpenforscher Werner Bätzing anlässlich der Eröffnung der Arte-Albigna-Ausstellung dazu aufgerufen, das Bergell nicht als «potenzialarmen Raum» zu verstehen. Sondern den Versuch zu unternehmen, das kreative Potenzial solch fantastischer Bergregionen weiter auszubauen, auch im Gespräch mit dem Mittelland. Das ist teilweise nicht gut angekommen. Denn es ist eine Frage der Perspektive – hier versteht sich sowieso niemand als «potenzialarm» oder «kulturell eng». Gemessen an der Zahl der Einwohner*innen ist hier mehr los als in Luzern, Bern oder Lausanne. Man ist normalerweise zufrieden, ja glücklich & dankbar, in einem solch produktiven, vielfältigen & extrem schönen Zipfel der Schweiz leben zu dürfen. Es ist mehr als mühsam, das immer wieder vermitteln zu müssen. Es findet schlicht zu wenig Austausch zwischen den alpinen Regionen & den Städten statt, der sich nicht um Finanzen dreht.
Das Risiko, dass das Bergell nun wieder als subventionsbedürftige Brache eingeschätzt wird, ist gross. Und ja, der Wiederaufbau & die Reparaturen werden riesige Summen verschlingen. Aber umgekehrt wird in den Städten ja auch investiert, damit sie lebenswert & attraktiv bleiben. Genau diese Unterstützung einer Solidargemeinschaft braucht auch das Bergell, das nun unter Phänomenen wie der Klimaerwärmung leidet, die wahrlich nicht hausgemacht sind. Man kann nicht einerseits die Verantwortlichen für diese Katastrophen finanziell an der langen Leine lassen und umgekehrt fordern, dass sich die betroffenen Regionen selbst helfen. Weder auf nationaler noch auf globaler Ebene.
Die Katastrophe von Bondo zeigt deutlich die Ausweitung einer Gefahrenzone, für die wir gegenwärtig schlecht gerüstet sind. Es gilt sie neu zu bewerten und den Handlungsspielraum im Alpenraum politisch zu korrigieren.
Veronika Rall lebt im Bergell in Castasegna. Sie ist Bloggerin, Dozentin an der Universität Zürich und macht sich stark für einen Kulturaustausch zwischen den Regionen. www.bergell-blog.ch