„Avers ist eine Wildnus, deme an Wildigkeit kaum ein anderes Tal zu vergleichen. Daher möchte nun jemand denken oder sagen, man befinde sich hier bei den Hottentotten oder in Sibirien.“ (Nicolin Sererhard, 1742).
Nach dem Abendessen stellt uns Geschichtsprofessor Jon Mathieu einen Text von Nicolin Sererhard aus dem Jahre 1742 vor. Nicht nur die Wandergruppe hört dem Luzerner Historiker mit Engadiner Wurzeln aufmerksam zu, auch die anderen Hotelgäste sind fast vollzählig anwesend. Vorgängig stellt Mathieu ein paar Reflexionen über das Projekt whatsalp an, welches er als „eingreifendes Forschungsprojekt“ bezeichnet. Das Thema stehe im Zentrum, das Wandern sei die Methode. Er zählt zwanglos ein paar Schlüsselwörter aus unseren bisherigen Blogbeiträgen auf und fügt bedauernd hinzu, dass er das Wort „Geschichte“ vermisse. Mit dem heutigen Abend ändert sich dies nun, denn Sererhards vor 275 Jahren entstandene „Einfalte Delineation aller Gemeinden gemeiner dreyen Bünden“ sei einer der besten Texte, der je über Graubünden geschrieben worden sei. Dabei sei dieser gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen und damals auch nicht gedruckt worden, fügt Mathieu an. Der Text von Sererhard, Pfarrer in Seewis im Prättigau, sei bei seinen Pfarrerkollegen eben nicht gut angekommen, weil es darin zu viele Lappalien habe. (So gab Sererhard seiner Zufriedenheit Ausdruck, dass seine Gattin die besten Conterserböcke koche.). Das Buch erschien dann erst viel später, im Jahre 1871 mit Neuauflagen in den Jahren 1944 und 1994.
Jon Mathieu liest uns den Text vor und erläutert zwischendurch einige Zusammenhänge (wir folgen hier der Darstellung von Loredana Pianegonda-Todisco in der Zeitung „Pöschtli“ vom 3. August 2017). In seiner Bergpredigt greife Sererhard verschiedenste Argumente auf, weshalb «jene, die in der äussersten Wildnus leben, es gemeinlich besser haben, als diejenigen so in der Zähme wohnen». So seien die «Wildner» die schönsten Leute des Landes – insbesondere weil sie frisch, gesund und stark seien. Ein Grund dafür sei das «alleredelste süsse Wasser zu allen Zeiten» und «zu jeder Zeit ihre veste süsse Milch zur Genüge». Die Maienfelder in der Zähme hätten hingegen ihre «sauren Weine». Aber auch bessere Ernährungs- und Produktionsgrundlagen würden das Leben in der Wildnis besser gestalten. Zudem besitze die Bevölkerung von Avers den grossen Vorteil, in nur einem Tag nach Chiavenna zu gelangen. Dort können sie «ihr Viech und Butter verkaufen» und von dem Erlös Korn, Reis, Kastanien, Salz oder Wein erwerben. Und letztlich sei für die «Wildner» die Arbeitslast weniger bedrückend. Denn bis auf drei oder vier Wochen, in denen sie heuen müssen, können sie den Rest des Jahres Ferien geniessen. In dieser Zeit müssen sie sich lediglich um die «Wartung» ihres Viehs kümmern. Diese Arbeit würde ihnen aber «Lust und Freud» bereiten.
Im Anschluss an die Lesung lädt der Geschichtsprofessor die Anwesenden zu einer Gruppenarbeit ein und möchte wissen, welche von Serehards drei Positionen am meisten Zustimmung erhält:
1) Doch da kontert das alte Sprichwort: Es ist kein Land sechs Kreuzer besser als das andere.
2) Nicolin Sererhard will diesem Sprichwort allerdings nur zum Teil zustimmen und behauptet, dass die Wildner es gemeinlich besser haben als diejenigen, so in der Zähme wohnen.
3) Daher will er nach vollbrachter Diskussion gar nicht mit dem klugen Italiener disputieren, der da sagt: Lodare le montagne e stare nelle pianure, oder: Lobe den Berg und halte dich an die Ebene.
Was denkt ihr, welche der drei Positionen hat unter den Anwesenden wohl am meisten Zustimmung gefunden?